Wir Kinder von Bergen-Belsen
dicht an der umzäunten Peripherie. Die Frau Doktor zog etwas näher an das SS-Lager, und mit ihr verschwand jede Art von Unterstützung, die wir von ihr erhalten hatten, als sie noch in unserer Baracke schlief. Schwester Luba musste jeden Tag losziehen, um etwas zu essen aufzutreiben, und oft blieb sie stundenlang weg. Manchmal kehrte sie mit leeren Händen zurück, dann wieder brachte sie uns wunderbare Kartoffelsuppe und Brot. Wir waren so weit weg vom Hauptteil des Lagers entfernt, dass die Küche vergaß, für uns zu sorgen. Es wurde sehr schwer, wenn wir den ganzen Tag mit einer dünnen Scheibe Brot auskommen mussten. Die Kleinen begannen bald zu weinen vor Hunger. Ich versuchte sie zu beschäftigen, indem ich ihnen Geschichten erzählte oder sie ins Bett legte und ihnen befahl, leise zu sein, weil die Wachmänner draußen keinen Lärm hören wollten.
Schwester Luba ging früh am Morgen weg, um Essen für uns zu besorgen. Inzwischen kümmerte sich Schwester Hermina um die beiden Babys, während ich für die kleinen Kinder sorgte. Nach dem Auszug der Frau Doktor hatte Schwester Luba ein paar Helferinnen aufgetrieben, die Schwester Hermina während ihrer Abwesenheit unterstützten. Iesie, Max, Jackie und einige andere Kinder waren krank, sie litten an einer schweren Erkältung. Wenn keiner in der Nähe war, gab ich Max und Jackie heimlich einen Löffel Zucker, damit sie ein bisschen Energie rankten, um gegen die Erkältung anzukämpfen. Und weil ich nicht übersehen konnte, wie gierig Iesie uns dabei beobachtete, bekam er ebenfalls einen Löffel Zucker.
Zwischen Iesie und mir entwickelte sich eine starke Beziehung. Als Älteste der Kinder besprachen wir unsere Probleme und versuchten gemeinsam, sie zu lösen. Ich hatte Iesie schon früher einmal gesehen, in Amsterdam, an Weihnachten 1942. Damals hatte ich mit Max und Jackie ein kleines Privattheater besucht, in dem eine Laiengruppe Aladins Wunderlampe aufführte. Iesie war der böse Ratgeber des Königs und spielte, als wäre er für die Bühne geboren. Ich war sehr beeindruckt gewesen und hatte mich nach seinem Namen erkundigt. Nun, als ich in Bergen-Belsen neben seinem Bett stand, erzählte ich ihm, wie gut er mir in Aladins Wunderlampe gefallen hatte, und ich schlug vor, ein Theaterspiel für die Kinder zu organisieren.
Zwei Tage später ging es Iesie so gut, dass er das Bett verlassen konnte, und wir machten uns an die Ausführung unseres Plans, den Kindern ein bisschen Unterhaltung zu bieten. Ich hatte in der Schule bei Theaterstücken mitgespielt, auch wenn das nun schon hundert Jahre her zu sein schien. Bald bekamen einige Kinder Wind von unserem Plan und ihre Stimmung besserte sich. Ihre Lethargie verschwand, die Erwartung lenkte sie davon ab, dass ihnen der Magen vor Hunger wehtat. Ein richtiges Theaterstück war natürlich nicht möglich, sogar eine Art von Variete-Show hätte unsere Möglichkeiten überstiegen, weshalb Iesie vorschlug: »Am besten stellen wir die Tische zusammen und bauen erst mal eine Bühne, auf der wir spielen können, und dann sehen wir weiter.«
Willige Hände schoben die Tische zusammen und in kürzester Zeit waren die Stühle in Reihen aufgestellt. Iesie kletterte auf die Tische und forderte alle auf, sie sollten sich hinsetzen, auch Schwester Hermina und ihre Helferinnen, Schwester Hella und deren Mutter. Wer keinen Stuhl gefunden hatte, setzte sich auf den Boden.
Iesie begann zu singen. Mag sein, dass manchmal ein falscher Ton dabei war, aber schon bald sangen alle mit. Es waren Lieder von glücklicheren Zeiten in Holland. Wir waren nach einer Stunde völlig erschöpft von der Singerei, doch es herrschte die einhellige Meinung, dass dies eine sehr schöne Aufführung gewesen sei.
Nach zwei harten Wochen in unerträglicher Kälte und fast ohne Essen, teilte uns Schwester Luba mit, wir müssten in einen anderen Lagerteil umziehen. Sie hatte ungefähr zehn Helferinnen für die Kinder und das Gepäck organisiert. Früh am Morgen verließ sie, zusammen mit den meisten der Kinder, die Baracke, ich wurde mit ein paar kleinen Kindern zurückgelassen, um den Rest unserer wenigen Besitztümer zu bewachen. Es dämmerte schon, als Schwester Hermina mit einigen Helferinnen zurückkam, um mich und die Kinder zu holen. Es war auch höchste Zeit! Wir hatten den ganzen Tag lang nur eine rohe Karotte gegessen, und getrunken hatten wir auch nichts, es gab noch nicht einmal Wasser. Es war mir sehr schwer gefallen, ganz allein für die
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