Wir Kinder von Bergen-Belsen
bekamen wir etwas in den Magen. Mein Kiefer schmerzte, so schwer waren die Karotten zu kauen, und dann krampfte sich auch noch mein leerer Magen zusammen. Also hatte ich die Wahl, Schmerzen oder hungrig zu bleiben. Ich wählte den Hunger. Jeden Tag gab ich Max und Jackie einen Löffel Zucker aus dem kleinen Glas, das ich in meiner Manteltasche mit mir trug. Das Glas, das ich in meinem Koffer versteckt hatte, war nur noch drei viertel voll.
Inzwischen war ich zu einem regelmäßigen Mitglied der Kindergruppe geworden, blieb den ganzen Tag bei ihnen und ging nur zum Schlafen in meine Baracke. Eva und Bram hatte ich in der letzten Zeit kaum gesehen, aber es war mir egal. Unsere Baracke war am Ende des Konzentrationslagers, weit weg von dem Elend, das sich in den anderen Teilen abspielte. Unser Teil war ruhig, es gab keine Gräueltaten. Außerhalb des Krankenhauses war niemand zu sehen und von drinnen drangen keine Geräusche heraus. Ich verspürte kein Bedürfnis, nachzusehen, was im Krankenhaus vor sich ging, auf meinem Weg zu und von den Kindern lief ich immer schnell vorbei.
Weihnachten war vorbei und das neue Jahr kam, der erste Tag des Jahres 1945. Ich wusste es, weil der Wachmann, der mit zwei wild aussehenden Hunden durch das Lager patrouillierte, den Wachleuten auf den Türmen seinen Neujahrsgruß zurief. Was würde uns die Zukunft bringen? Vielleicht würden wir in diesem Jahr befreit werden. Hoffnung flackerte in meinem Herzen auf, und ich schickte ein Gebet zum Himmel, während ich zur Kinderbaracke ging. Ich sprach mit meiner Mutter und mit meinem Vater, in der Hoffnung, sie könnten mich hören.
An diesem Morgen forderte ich die Kinder auf, mit mir zu singen. Sie taten es, und wir sangen all die einfachen Lieder, die wir in der Schule gelernt hatten. Wenn ein Lied fertig war, stimmte jemand ein neues an und wir fielen ein. Es war das erste Mal, dass ich Schwester Luba lächeln sah, und als wir erschöpft aufhörten, sangen Schwester Luba und Schwester Hermina zwei wunderschöne russische Lieder.
Später am Nachmittag wurde ein Behälter mit Essen gebracht, das die Frau Doktor organisiert hatte. Sie kam fast gleichzeitig in die Baracke, und ich erkannte, dass sie die Frau war, die ich zusammen mit dem SS-Offizier aus dem Krankenhaus kommen gesehen hatte. Sie war ungefähr einen Meter sechzig groß, hatte dunkle Locken und trug immer noch ihr blaues Kostüm. Schwester Luba rief mich, stellte mich der Frau Doktor vor und erwähnte, dass ich es war, die den Zucker zu ihrem Geburtstagskuchen beigesteuert hatte. Die Frau Doktor dankte mir, dann wandte sie sich auf Polnisch wieder an Schwester Luba. Ich ging zum Tisch zurück, ohne dass sie es merkten. Eine halbe Stunde später verließ die Frau Doktor die Baracke und alles nahm wieder seinen normalen Gang.
8. Kapitel
Am 4. Januar 1945, früh am Morgen, brach in unserem Lagerteil die Hölle los. Wir konnten Schreie und rennende Füße hören. Unsere Tür wurde gewaltsam aufgerissen und eine weibliche SS-Aufseherin schrie: »Alle raus, und bringt euer Gepäck mit.« Bram und Eva verloren keine Zeit, sie nahmen ihre Koffer, gingen hinaus und ließen mich allein zurück. Es gab keine Möglichkeit, alle Koffer mitzunehmen, die ich auf meinem Bett aufbewahrte. Ich war verzweifelt und überlegte, was ich tun könnte, als eine Aufseherin hereinkam, um den Raum zu inspizieren. Ich saß auf meinem Bett, unfähig, mich zu bewegen. Ihr Blick traf meinen, und ich war sicher, dass mich als nächstes ihre Peitsche treffen würde, doch aus irgendwelchen Gründen tat sie, als habe sie mich nicht gesehen. Als sie sich zur Tür wandte, um hinauszugehen, kam eine andere herein und unterhielt sich mit ihr angeregt über etwas, was sie beide offenbar in der vergangenen Nacht erlebt hatten. Wie im Traum konnte ich sehen, wie die erste Aufseherin ihre Position änderte, sodass die zweite mit dem Rücken zu mir zu stehen kam.
Langsam rutschte ich unter meine Decke, in dem Versuch, mich unsichtbar zu machen, als eines der Kinder, Maxie K., hereinkam und laut meinen Namen rief. Er ging direkt an den beiden vorbei und rief die ganze Zeit meinen Namen. Es gab keinen Ausweg, ich musste mich aufsetzen. Mit einem Blick auf die beiden Aufseherinnen fragte ich Maxie, was er von mir wolle.
»Du sollst gleich zu Schwester Luba kommen«, sagte er.
»Warum? Bist du sicher, dass ich gemeint bin?«
Ich traute Schwester Luba noch immer nicht.
»Ja«, sagte Maxie. »Sie hat gesagt, dass ich
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