Wir Kinder von Bergen-Belsen
mich aufforderte, sie zu begleiten. Wir verließen die Baracke kurz nach acht Uhr morgens und gingen die Hauptstraße entlang, Richtung SS-Bereich. Nach dem Frauenlager kamen wir an dem roten Backsteingebäude vorbei, wo wir, das ganze Albalalager, uns vor ungefähr einem Jahr hatten duschen müssen, gegen die Läuse, von denen fast alle befallen waren. Es war gegen zehn Uhr abends gewesen, meine Mutter war noch bei der Arbeit. Damals war ich zum ersten Mal von Max und Jackie getrennt worden, weil sie zusammen mit den Männern duschen mussten. Es war ein großer Raum gewesen, mit einem Betonboden und vielen Duschköpfen, und während wir, eine Gruppe von etwa fünfzig Frauen, duschten, wurden unsere Kleider desinfiziert.
Schwester Luba bemerkte nicht, dass ich in Gedanken versunken war, sie lief stetig vorwärts. Wir passierten die Grenze unseres Lagerbereichs, ohne aufgehalten zu werden. Hier war es sehr ruhig. Die Geräusche des Frauenlagers hinter uns wurden immer leiser. Schwester Luba und ich liefen schweigend zum letzten Tor, bevor wir die Richtung zum Hauptlager einschlugen. Wir gingen die große Straße entlang, die den SS-Bereich teilte, und näherten uns dem Haupttor des Konzentrationslagers, mit dem Wachhaus, in dem drei SS-Bewacher standen, genau wie damals, an jenem Tag im Februar 1944, als ich nach Bergen-Belsen gekommen war.
Schwester Luba nannte ihre Nummer, die man ihr in Auschwitz in den Arm tätowiert hatte, und gab an, wohin wir wollten. Sie lächelte den SS-Mann an, während sie mit ihm sprach, und er reagierte mit einem freundlichen Gesicht darauf. Er sagte ihr, sie könne diesen Teil des Lager mit »der Kleinen« betreten. Damit war ich gemeint. Es war offensichtlich, dass Schwester Luba ein außerordentlich gewinnendes Lächeln hatte, auf das die SS-Wachen reagierten. Außerdem wussten sie von ihrer Arbeit im Kinderhaus. Schwester Luba hatte vor fast zwei Monaten die Sorge für uns übernommen, und an manchen Tagen war sie zweimal durch dieses Tor gegangen, um in der Küche etwas zu essen für uns aufzutreiben. Was für einen Mut diese kleine Frau hatte, die es wagte, sich immer wieder diesen bösartigen Männern zu stellen!
»Danke«, sagte Schwester Luba und zog mich vom Wachhaus weg, nachdem man ihr die Erlaubnis gegeben hatte.
Sie hielt meine Hand fest, während wir durch das Hauptlager zum Vorratslager gingen. Als wir dort ankamen, sah ich zwei Frauen vom Albalalager (Sternlager), die hier arbeiteten. Sie waren sehr überrascht, mich zu sehen, und stellten mir viele Fragen, die ich nicht sofort beantworten konnte. Während wir miteinander sprachen, kam Fritz, der für das Vorratslager verantwortliche Scharführer, herüber, und die Frauen erklärten ihm, dass ich eine der »Waisen« sei, die am Nikolaustag zurückgeblieben waren. Fritz befahl einer der Frauen, sie solle mir eine Salami geben.
Sie tat es und sagte: »Versteck die Wurst unter deinem Mantel, damit niemand sie sieht.«
In der Zwischenzeit kam die andere Frau mit einer zweiten Salami zurück. »Hier«, sagte sie, »nimm die auch. Schnell, bevor der Aufseher es merkt.«
Ich nahm auch die zweite Salami. Aber es war gar nicht so einfach, die Würste unter meinem Mantel festzuhalten, sie waren sehr schwer und ich war nicht mehr besonders kräftig. Aber trotzdem war ich fest entschlossen, beide Würste zu den Kindern zu bringen. Schwester Luba konnte mir nicht beim Tragen helfen, weil sie keinen Mantel anhatte. In der klirrenden Kälte trug sie nur eine blaue Baumwollbluse mit kurzen Ärmeln und einen schwarzen Rock.
Ich kämpfte mich den langen Weg zurück zu unserem Lager, ein Weg, auf dem die Würste immer schwerer und schwerer wurden. Ich war völlig erschöpft, wurde aber belohnt von den erfreut lächelnden Gesichtern der Kinder, als sie erfuhren, dass sie zum Abendessen Brot mit Salami bekommen würden.
Nach dieser Erfahrung überlegte ich mir, dass es eine bequemere Art geben müsse, eine Salami zu tragen, ohne dabei erwischt zu werden. Ein paar Tage später hatte ich eine Idee. Die lange Hose, die Sonja mir geschickt hatte, hatte weite Beine. Ich konnte die Taschen am unteren Saum öffnen und sie verlängern, indem ich je einen Socken meines Vaters darannähte. So bekam ich Taschen, die ungefähr die Länge einer Salami hatten. Ich könnte sie, falls es mir noch einmal gelänge, welche zu bekommen, in meine Taschen stecken und, von außen unsichtbar, in meiner Hose transportieren. Da mir dieses Versteck so perfekt
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