Wir Kinder von Bergen-Belsen
oft Iesie und Max mit, oder Iesie und Loukie, denn sie hoffte, der Anblick der Kinder würde, wenn sie um Essen bettelte, die Leute mitleidig machen.
Diese Wochen des neuen Jahres meinten es gut mit uns. Meistens brachte Schwester Luba morgens und nachmittags etwas zu essen. Wie wundervoll war es, zu frühstücken. Manchmal gab es Brei oder Reis und noch eine Mahlzeit abends. Wir, die wir zehn lange Monate im Albalalager gehungert und nur von Karotten und ein paar Rübenstücken in braunem, warmem Wasser gelebt hatten, konnten unser Glück kaum fassen. Die hohlen Wangen der Kinder füllten sich ein wenig und manchmal konnte man sie sogar lachen hören. Aber die Zeit zog sich langsam dahin.
Weihnachten und Neujahr lagen nun schon lange zurück und eine weiße Schneeschicht bedeckte das Lager, die Temperaturen lagen bei weit unter null. Obwohl das Kinderhaus vom übrigen Lager abgetrennt war, drangen Nachrichten von ungeheurer
Brutalität und Leiden bis zu uns. Wir hörten von Gefangenen, die bei dieser Kälte stundenlang Appell stehen mussten, und wir wussten nur zu gut, was das bedeutete, schließlich hatten wir oft genug ähnliche Erfahrungen im Albalalager durchmachen müssen. Dank Schwester Luba und Gott im Himmel brauchten wir nicht jeden Morgen auf dem Appellplatz zu stehen. Zwei von Schwester Lubas Helferinnen zählten uns in der Baracke.
Dann, an einem sehr kalten und windigen Nachmittag etwa in der dritten Januarwoche, wurde uns gesagt, wir müssten zum Zählappell ins Freie gehen. Er fand vor einem zweistöckigen Gebäude statt, das von Bäumen umgeben war. Wir zogen uns so warm wie möglich an, denn wir erinnerten uns genau, wie lange so ein Appell dauern konnte. Jeder, der in unserer Baracke mit der Nummer 211 untergebracht war, hatte anwesend zu sein, sogar die Babys, die Kranken und die Helferinnen.
Der Wind heulte zwischen den Bäumen, während wir uns zitternd vor Kälte dicht aneinander drängten. Neben uns standen die Bewohner anderer Baracken, die schon lange vor uns gekommen waren. Wir warteten. Langsam wurde uns klar, dass dies kein normaler Zählappell war, bei dem wir uns in Fünferreihen aufstellen und bewegungslos stehen bleiben mussten. Wir waren aufgerufen worden, weil alle Bewohner dieses Lagerteils mit der Nummer 2, ironisch auch Krankenrevier genannt, registriert werden sollten. Nach ungefähr einer Stunde waren wir an der Reihe. Inzwischen waren andere Gruppen bereits zu ihren Baracken zurückgekehrt.
Während wir warteten, hatte man uns gesagt, die Registrierung diene dazu, uns eine Nummer auf den Unterarm zu tätowieren, so wie wir es schon bei den Häftlingen aus Auschwitz gesehen hatten. Einer nach dem anderen mussten wir zu den für die Registrierung Zuständigen gehen, die unter der Bewachung von Aufseherinnen an einem Tapeziertisch saßen. Als ich an der Reihe war, trat ich mit Max und Jackie vor. Eine Frau mit einem harten Gesicht fragte mich nach Namen, Geburtsdatum und der Stadt, aus der ich gekommen war. Nachdem sie alles auf ein Blatt Papier geschrieben hatte, sagte sie, dass ich ab jetzt die Nummer 10564 hätte. Bis zur Tätowierung müsse ich »Nr. 10564« auf ein weißes Stück Tuch schreiben und deutlich sichtbar vorn auf meiner Kleidung tragen, egal ob ich einen Mantel oder einen Pullover anzog. Mein Mantel müsse auf dem Rücken einen roten Streifen haben, damit jeder sehen könnte, dass ich ein Häftling war. Man würde den Mantel zu einem späteren Zeitpunkt abholen, um den roten Streifen aufzumalen.
Diese ganze Prozedur verängstigte die Kinder, denn alle fürchteten sich davor, eine Nummer auf den Arm tätowiert zu bekommen.
Die für die Erfassung Zuständigen kamen gut voran mit den älteren Kindern, die ihre Namen wussten, doch als die Kleinen von den Babys bis zu den Fünfjährigen beharrlich befragt wurden, fingen sie an zu weinen, und die älteren Kinder durften ihnen nicht zu Hilfe kommen. Nach einer Weile merkten die Registrierer, dass sie damit nicht vorankamen, und nach einer Diskussion mit den Aufseherinnen durfte unsere Gruppe zur Baracke zurückkehren, nachdem wir über drei Stunden in der klirrenden Kälte gestanden hatten. Schwester Luba wurde beauftragt, mit Hilfe der älteren Kinder eine Liste anzufertigen, die in ein paar Tagen abgeholt werden sollte.
Zu unserem Glück gab es danach keine weiteren Zählappelle.
Es war in der letzten Januarwoche, als Schwester Luba sich wieder einmal auf den Weg machte, um etwas zu essen zu besorgen, und
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