Wir Kinder von Bergen-Belsen
danach kamen zwei von ihnen nachmittags in unseren Schlafraum. Alle Kinder hielten in ihren Beschäftigungen inne. Niemand sprach, niemand bewegte sich, während sie langsam zwischen uns hindurchgingen. Eine Aufseherin schien einen Narren an Max gefressen zu haben, sie fragte ihn freundlich nach seinem Namen. Obwohl Max sehr knochig war, sah er mit seinen schwarzen Haaren und den blauen Augen noch immer sehr gut aus.
Sie begann eine Unterhaltung mit ihm, während ich sie von meinem Bett aus beobachtete. Sie erzählte ihm, dass sie unsere Vorstellung gesehen und bedauert habe, dass wir keine Musikinstrumente gehabt hatten.
Max stimmte zu und sagte: »Wenn ich eine Mundharmonika hätte, könnte ich sie spielen.«
»Ich werde dir eine Mundharmonika bringen«, versprach sie.
Nachdem sie gegangen war, kam Max zu mir.
»Hast du das gehört, Hetty?«, sagte er. »Sie bringt mir eine Mundharmonika.«
»Schraub deine Hoffnungen nicht zu hoch, Max«, wandte ich ein. »Man kann ihnen nicht trauen.«
Das Erstaunliche bei diesem Treffen war jedoch, dass Max Niederländisch gesprochen hatte und die Aufseherin Deutsch und sie trotzdem einander gut zu verstehen schienen.
Zwei Tage später kamen dieselben Aufseherinnen wieder in unseren Schlafraum. Die Kinder erstarrten und wurden still, aber die Freundlichkeit der Frauen beruhigte sie schnell, sodass sie mit ihren Beschäftigungen fortfuhren. Die eine, die Max so mochte, hieß Hilde. Sie ging sofort zu ihm und gab ihm ein Päckchen. Als er es aufmachte, fand er ein Paar Socken darin und, es war kaum zu glauben, eine wunderbare Mundharmonika. Sein Gesicht strahlte vor Glück. Schon bald brachte er einen einfachen Ton heraus, und die Aufseherin schaute ihm zu und lächelte. Sie hatte sich gegenüber von Lenis Bett auf die unterste Pritsche gesetzt. Wie immer saß ich auf meinem Bett, beobachtete die Szene von oben und überlegte, ob es wirklich sein könne, dass eine SS-Aufseherin ein Herz hat. Nein, beschloss ich, ich bleibe auf der Hut, ich traue ihnen nicht. Ich rief Max zu mir und flüsterte ihm zu, er solle vorsichtig sein. Er nickte. Weil Max ein Geschenk bekommen hatte, kamen auch die anderen Kinder näher. Die Aufseherinnen schienen die Aufmerksamkeit zu genießen. Als sie weggingen, sagten sie, sie würden bald wiederkommen.
Im Februar 1945 wurde es immer schwieriger, Verpflegung zu bekommen, und Schwester Luba hatte viel zu tun, um genug für uns aufzutreiben. Es war bitterkalt, und wenn sie von einer ihrer fruchtlosen Gänge zurückkam, war sie oft müde und verzweifelt. Dabei fiel mir auf, dass die Hexe in Wirklichkeit eine gute Frau war. Sie zog Schwester Luba die Schuhe aus, massierte ihre müden Füße und beauftragte Schwester Hella, eine Schüssel mit heißem Wasser zu bringen, um Schwester Lubas Füße darin zu baden. Ich beobachtete, wie sich Schwester Luba entspannte und langsam wieder zu Kräften kam, während sie der Hexe auf Polnisch ihr Herz ausschüttete. Diese beruhigte sie mit sanfter Stimme, bis sie bereit war, sich wieder auf den Weg zu machen.
Bei solch einer Gelegenheit wünschte Schwester Luba, dass ich sie bei der Suche nach Essen begleiten solle. Wie wir es schon so oft getan hatten, liefen wir durch das Lager zur Küche. Diesmal steuerten wir die Küche Nummer 1 an, die das Männerlager versorgte und von einem polnischen Kapo beaufsichtigt wurde. Schwester Luba sprach mit diesem Mann, und auf ihrem Gesicht erschien wieder ihr überwältigendes Lächeln. Ich konnte nicht genau verstehen, was gesagt wurde und entnahm seinem Tonfall, dass sie sich wohl in Geduld fassen und eine Weile warten solle. In diesem Moment kam der Scharführer vom anderen Ende der Küche angerannt und rief, er habe sich mit einem Messer geschnitten. Schwester Luba sprang sofort vor, sagte, sie sei Krankenschwester und könne ihm helfen. Er befahl ihr, ihm in sein Büro zu folgen und ihm erste Hilfe zu leisten.
Ich blieb am Eingang zurück und konnte von dort sehen, was sich in der Küche abspielte. Der Dampf aus den riesigen Stahlkochtöpfen erfüllte den Raum, es war heiß und dunstig. Die Häftlinge arbeiteten sehr schnell, viele Befehle wurden gegeben, die ich alle nicht verstand. Ich wartete lange, vielleicht über eine halbe Stunde, bis Schwester Luba mit dem Scharführer zurückkam, dessen Hand nun verbunden war. Als sie die Küche betra-ten, befahl er dem Kapo, Schwester Luba genügend Essen für das Kinderhaus zu überlassen und dass sie ab jetzt jeden Tag zur
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