Wir Kinder von Bergen-Belsen
mich an die deutschen Bewacher vor der Synagoge erinnern, doch ich hatte angenommen, sie stünden deshalb da, um die se-phardischen Juden am Gottesdienst zu hindern. Er erzählte uns, wie er freitagabends immer mit seinem Vater und seinem Onkel die Synagoge besucht und welche tiefe Befriedigung ihm seine Religion gegeben hatte.
Eines Morgens sagte Iesie, das Gebäude etwas weiter oben sei das Leichenhaus.
»Woher weißt du das?«, fragte Max. »Hast du das Gelände verlassen?«
»Ich bin hinausgeschlüpft, als niemand am Tor war«, sagte Iesie. »Egal, das ist jedenfalls der Platz, zu dem sie die Leichen bringen.«
Es war das Gebäude, das ich an dem Abend bemerkt hatte, als Schwester Hermina mich von der alten Baracke hierher brachte. Kein Wunder, dass ich mich unbehaglich fühlte, als ich daran vorbeigegangen war.
»Ich habe darüber nachgedacht«, sagte Iesie. »Wenn uns die SS umbringen will, werde ich nicht einfach stillhalten. Ich werde weglaufen.«
»Wohin?«, fragte Loukie.
»Das weiß ich nicht«, antwortete Iesie. »Aber ich will mich auch nicht einfach von ihnen ins Leichenhaus bringen lassen.«
Niemand sprach ein Wort, während wir über Iesies Worte nachdachten. Nach einer Weile sagten Gerrie und Jackie, sie würden ebenfalls wegrennen, wenn das möglich wäre. Ich sagte nichts. Wo sollten wir hinrennen? Es gab keinen Weg hinaus. In der folgenden Nacht hatte ich einen Albtraum, in dem mich die SS grausam durch das Lager verfolgte.
Aus den Tagen wurden Wochen und das kalte Wetter hörte nicht auf. Wir hatten wirklich Glück, dass wir nicht an den
Zählappellen teilnehmen mussten. Das Leichenhaus weiter oben auf der Straße wurde voll und die Leichen stapelten sich vor dem Gebäude. Von unserem Gelände aus konnten wir es sehen. Der Haufen wurde mit jedem Tag höher.
Das Leben in unserer Baracke war immer besser organisiert. Eine der Helferinnen, Schwester Hella, war eine schöne junge Frau mit goldblonden Haaren. Auch ihre Mutter befand sich unter den Helferinnen. Sie war eine kleine, dürre Frau mit scharf geschnittenen Zügen, die ständig ein Tuch um den Kopf gewickelt hatte. Ihre Arbeit war, den Boden im Esszimmer sauber zu halten, weshalb sie immer einen Schrubber mit sich herumtrug. Sie war nicht besonders freundlich, und wenn die Kinder manchmal ihre Hände an dem Ofen wärmen wollten, der mitten im Raum brannte, rief sie immer: »Gej awek fon der kich« (Geh weg von der Küche), und drohte den Kindern mit dem Schrubberstiel. Wenn das passierte, kamen sie schutzsuchend zu mir gelaufen und beklagten sich, dass »die Hexe« — so wurde sie heimlich genannt — ihnen nicht erlaube, sich die Hände zu wärmen. Ich sagte ihnen, sie sollten brav sein und sich fern vom Ofen halten, denn es war einigermaßen warm im Esszimmer.
Normalerweise forderte ich sie auf, sich um den Tisch zu setzen, damit ich ihnen eine Geschichte erzählen könne. Ich besaß den Respekt aller Kinder. Sie akzeptierten meine Führungsrolle und kamen mit allen Sorgen und Problemen zu mir. Alle, egal, wie jung sie waren, verstanden, ohne dass es je ausgesprochen worden war, dass wir zusammenhalten und uns gegenseitig helfen mussten, um zu überleben.
Unsere Baracke war mit Stacheldraht eingezäunt. Durch ein Tor kam man in einen kleinen Hof, durch den der Weg zur Baracke führte. Die Kinder durften tagsüber draußen spielen, aber nicht durch das Tor gehen. Schwester Luba hatte das allen genau eingeschärft, und niemand wagte es, ungehorsam zu sein. Sie war eine gute Frau, duldete aber keinen Unsinn. Wir mussten brav sein und tun, was uns gesagt wurde.
Schwester Luba hatte dunkelbraune Augen und einen schmalen Mund. Ihre Augen, obwohl fordernd, waren freundlich, aber wenn sie böse war, wurden ihre Lippen zu einer dünnen Linie, und Gott mochte demjenigen beistehen, der gerade von ihr abgekanzelt wurde. Sie ertrug keine Dummheiten. Wenn Schwester Luba schlechte Laune hatte, gingen wir ihr aus dem Weg.
Ein paar Frauen halfen bei den täglichen Arbeiten wie zum Beispiel die Kleinen an- und auszuziehen oder auf den Topf zu setzen. Wir sahen nicht so viel von Schwester Luba, weil sie jeden Morgen sehr früh zur Küche ging, um zu sehen, ob sie etwas zu essen für uns bekam. Sie nahm ihre zwei kräftigen Polinnen mit, die dann den schweren Essensbehälter von der Küche zu unserer Baracke tragen mussten. Manchmal kam sie mit nichts zurück, um dann ein paar Stunden später wieder loszuziehen. Wenn das der Fall war, nahm sie
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