Wir Kinder von Bergen-Belsen
erwartete. Sie war groß und kräftig mit dunkelblonden Haaren. Auch sie hatte die hohen Backenknochen der Slawen, blassgraue Augen und einen harten Mund. Beide Frauen trugen die karierten Röcke der Prominenten und hohe Stiefel, die denen der SS-Aufseherinnen ähnlich sahen. Das Leder glänzte so sehr, dass man sich darin spiegeln konnte.
Als spüre sie meinen forschenden Blick, drehte sich Frau Stana zu mir um und fragte: »Wie alt bist du eigentlich, Hetty?«
Schwester Lubas Warnung schoss mir durch den Kopf, deshalb log ich: »Ich bin heute dreizehn geworden.«
»Ach, du hast Geburtstag«, sagte sie, »wie schön.«
Ich nickte. Nach diesem kurzen Wortwechsel wandte sie sich wieder ihrer Stellvertreterin zu. Es war schwierig, sich mit ihr zu unterhalten, denn sie sprach Deutsch und Polnisch, und ich konnte eigentlich nur Niederländisch.
Wieder mir selbst überlassen, betrachtete ich die Umgebung.
Hinter mir, auf einem freien Platz, stand ein kleines Haus aus roten Backsteinen, das von einem hohen Zaun umgeben war. Erschrocken wurde mir klar, dass dies das Krematorium war, der Ort, der jenen beiden hübschen Jungen vor einem Jahr als Arbeitsplatz zugeteilt worden war. Doch im Moment war niemand zu sehen. Das Haus sah verlassen aus, kein Rauch kam aus dem Schornstein. Es lagen auch keine Leichen um das Haus. Ich drehte den Kopf weg, der Anblick bedrückte mich.
Da entdeckte ich ein paar leere Sardinenbüchsen auf dem Boden und stand auf, um mir zwei zu holen. Die Lagerälteste hatte noch nicht einmal bemerkt, dass ich mich ein paar Meter entfernt hatte. Ich kam zurück und füllte die Büchsen mit Sand. Dann nahm ich ein paar Heidepflanzen und schuf ein Miniaturgesteck, das jedes Heim geschmückt hätte. Es war schön, in diesem Elend etwas Hübsches, Zierliches zu schaffen.
Plötzlich erinnerte sich Frau Stana an meine Anwesenheit und schaute mich an. Ich zeigte ihr, was ich gemacht hatte, und sie sagte: »Schön.« Ich hielt ihr eines der Gestecke hin und sagte: »Das ist für Sie.«
Sie betrachtete es und sagte nach einigem Zögern zu ihrer Stellvertreterin, sie solle es tragen, denn wir waren bereit zu gehen. Ich deutete auf das zweite und fragte: »Schwester Luba?« Frau Stana nickte, deshalb nahm ich es hoch und trug es sorgsam.
Als wir das Kinderhaus erreichten, verabschiedete sich Frau Stana freundlich von mir, und ich sah ihr an, dass sie es ernst meinte. Ihre Stellvertreterin war nicht so freundlich, ich merkte, dass sie froh war, mich los zu sein. Ich bedankte mich bei beiden für den Spaziergang und schlüpfte schnell in unsere Baracke, um Schwester Luba das Gesteck zu geben. Sie war sehr froh, mich zu sehen, denn sie hatte sich Sorgen gemacht, warum die Lagerälteste persönlich verlangt hatte, dass ich sie begleite. Die Stunden bis zu meiner Rückkehr waren eine große Belastung für sie gewesen. An diesem Abend gab sie mir eine zusätzliche
Scheibe Brot, als Geburtstagsgeschenk, und ich teilte sie sofort mit Max und Jackie.
Als wir alle unser Salamibrot gegessen hatten, sangen die Kinder ein Geburtstagslied für mich. Erica brachte ein Gedicht vor, das sie für mich auf Niederländisch geschrieben hatte. Es ging ungefähr so:
Zum Geburtstag viel Glück. Ich schenke dir Brot ohne Butter, ich hab nämlich keine, aber bestimmt wirst du es essen können. Ich hoffe, dass du deinen nächsten Geburtstag in Amsterdam feiern wirst, mit deinen Eltern und deinen Brüdern Jackie und Sam. (Max wurde damals Sam genannt.)
Erica überreichte mir eine Scheibe Brot, ihre Abendmahlzeit, aber ich war nicht bereit, es anzunehmen und sagte ihr, sie müsse es selbst essen. Aber dass sie mir überhaupt ihr Brot schenken wollte, zeigte mir, dass sie mich lieb hatte und würdigte, dass ich mich um sie kümmerte. Ich gab ihr einen dicken Kuss und alle Kinder klatschten in die Hände, um mir ihre Zuneigung zu zeigen. An diesem Abend gingen wir alle glücklich ins Bett, und als Schwester Mala sagte, es sei jetzt Schlafenszeit und sie würde das Licht ausmachen, gehorchten wir sofort.
Am Tag darauf wurde ein Päckchen für mich abgegeben, von der Lagerältesten. Darin war ein grau und weiß karierter Rock und ein hübscher Wollpullover. Die Größe war genau richtig und passte mir perfekt. Schwester Luba strahlte, sie war so stolz auf mich. Ich hatte das Herz der Lagerältesten gerührt, was Schwester Luba bei ihren Bemühungen, Essen für uns zu bekommen, sehr nützlich sein konnte.
Das Leben im ganzen Lager
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