Wir Kinder von Bergen-Belsen
leicht zu bewerkstelligen hielt. Schließlich wurden hier Leute für eine Scheibe Brot umgebracht, und wir mussten vierunddreißig Scheiben zusammenbringen. Aber wir wussten, dass wir es unbedingt hinkriegen mussten. Schwester Luba war etwas ganz Besonderes für uns.
»Jeder von uns gibt zweimal die Hälfte seiner Scheibe Brot her, die er zum Abendessen bekommt«, sagte ich, nur so geht es. »Nun, was hältst du davon, Iesie?«
Iesie machte ein ernstes Gesicht. »Das ist ein ziemlich großes Opfer«, sagte er. »Wir haben in den letzten Tagen nicht besonders viel zu essen bekommen.«
»Ich weiß, dass es für jeden von uns ein Opfer ist, aber ich sehe keinen anderen Weg, das Brot zu bekommen, außer ins Vorratslager einzubrechen«, sagte ich.
Iesie schwieg eine Weile, dann schlug er vor, die anderen zu fragen, ob sie einverstanden waren. Ich wandte mich an einige Kinder, die in der Nähe standen, und sagte, sie sollten die anderen in den Schlafraum rufen. Bald umstanden mich alle, außer den ganz Kleinen. Ich erzählte ihnen von den Plänen zu Schwester Lubas Geburtstag und was wir von ihnen brauchten.
»Es ist eure Brotration, und wenn ihr nicht zweimal die Hälfte abgeben wollt, müsst ihr es wirklich nicht tun«, sagte ich.
Aber sie waren alle einverstanden, und das allein zeigte schon, wie sehr die Kinder Schwester Luba liebten. Somit war es ausgemacht, dass ich an diesem und dem folgenden Abend von jedem eine halbe Scheibe Brot einsammeln würde.
Am nächsten Morgen, als Inge und Gretel zurückkamen, sagte ich ihnen, sie könnten am Abend um halb sechs kommen und die Hälfte des Brotes abholen.
Den ganzen Tag über lernte ich das Gedicht.
Ich beschloss auch, eine Geschenkschachtel für den wunderbaren Schal zu basteln. Irgendwie gelang es mir, Karton aufzutreiben. Ich schnitt zwei herzförmige Stücke heraus und überzog sie mit Stoff von einem hübschen Sommerkleid, das ich immer noch besaß. Es war sowieso zu kalt, um es zu tragen. Auf diese Weise gelang es mir, eine wunderschöne Schachtel herzustellen, mit einem Deckel, der sich öffnen und schließen ließ. Zwei Tage dauerte es, aber das Ergebnis war so, dass sich die Mühe gelohnt hatte.
Die Broteinsammlung am Abend verlief glatt. Ich fand zwei einigermaßen saubere Geschirrtücher in meinem Fach und be-schloss, eines für jeden Abend zu benutzen. Am ersten Abend sammelte ich das Brot während des Essens ein, ohne dass die diensthabende Schwester etwas bemerkte. Es gab eine zweite Tür, die vom Esszimmer zum Korridor führte und selten benutzt wurde. Ich beschloss, durch diese Tür zu gehen, um auch den scharfen Augen Schwester Lubas zu entgehen, und rannte mit dem Brot den Korridor hinunter zu Inge und Gretel, die am Tor zu unserem Hof warteten. Ich übergab Inge das Päckchen und sie gab mir den in ein Papier gewickelten Schal. Dann gingen sie schnell weg, denn es wurde schon dunkel, und Ber-gen-Belsen war kein Platz, an dem man bei Dunkelheit herumlief. Ich ging hinein und versteckte den Schal in meinem Schränkchen.
Am nächsten Abend begnügten sich die Kinder wieder mit der Hälfte ihrer Brotration. Obwohl wir sehr, sehr hungrig waren, war unsere Liebe zu Schwester Luba doch größer als unser Hunger. Schwester Luba bedeutete uns alles. Sie war unsere Mutter in Bergen-Belsen, unser Vertrauen in sie war grenzenlos, unsere Liebe bedingungslos. Sie war der Engel, der sich um uns kümmerte.
Der 5. März 1945 kam. Früh am Morgen wuschen wir Gesicht und Hände und kämmten uns die Haare, die älteren Kinder sorgten für die jüngeren. Alle standen in einer Reihe, als ich eine letzte Inspektion durchführte, bevor wir zum Esszimmer gingen. Wir setzten uns nicht an den Tisch, wie wir es sonst taten, sondern stellten uns in einer doppelten Reihe auf, die Kleinen vorn, die größeren hinten, und schauten zur Tür. Schwester Luba, der wir am Abend gesagt hatten, dass sie anwesend sein müsse, betrat den Raum, und spontan sangen die Kinder das niederländische Geburtstagslied: »Lang soll sie leben, hurra!« Schwester Luba war überrascht und ihr Gesicht erstrahlte in einem glücklichen Lächeln. Die Kinder hatten das Geheimnis gut gehütet.
Nach dem Lied sagten wir, sie solle sich auf ihren besonders geschmückten Stuhl setzen, dann sagte ich das Gedicht auf:
Schwester Luba, diesen Namen wohl genannt, mit Achtung und Liebe ist sie bekannt, Sie schafft von früh bis abends spät, sie ist es, die sich in unserer Mitte dreht.
Der Tag hat noch nicht
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