Wir Kinder von Bergen-Belsen
wurde unerträglich. Das kalte Wetter, der Nahrungsmangel, die langen Zählappelle und die unbeschreibliche Uberfüllung in den Baracken führten zu immer mehr Todesfällen. Hier, im Frauenlager, wuchs der Leichenberg immer höher, und von unseren Fenstern aus konnten wir Leichen herumliegen sehen, so weit das Auge reichte. Obwohl der Gestank der verwesenden Körper schrecklich gewesen sein muss, rochen wir ihn nicht mehr.
Seit zwei Monaten wachten zwei Frauen nachts über uns. Es hatte angefangen, als Philipje krank geworden war, und sie waren vor allem geblieben, um nach den Kleinen zu schauen. Auch für die Größeren war es angenehm, wenn sie nachts aufwachten, das schwache Licht sahen und die leise Unterhaltung der beiden Schwestern hörten. Auch ich empfand es, wenn ich manchmal aus meinem unruhigen Schlaf aufwachte, immer als Beruhigung. Ich schlief selten friedlich, da ich innerlich ständig mit nächtlichen Gefahren rechnete.
Während der letzten Februartage 1945 erfuhren wir durch den Lagertelegraphen, dass einige der Männer aus der Diamantengruppe, die am 4. Dezember 1944 deportiert worden war, nach Bergen-Belsen zurückgekehrt waren und sich nun im Häftlingslager befanden. Wir fragten uns, ob unser Vater unter den Zurückgekehrten war. Und als uns die SS-Aufseherinnen wieder besuchten, wandte sich Max mit der Bitte an Hilde, herauszufinden, ob unser Vater im Männerlager war.
Er rief mich hinüber zu seiner Pritsche und sagte: »Hetty, Frau Hilde möchte ein paar Einzelheiten von Papa wissen. Zum Beispiel sein Geburtsdatum.«
Nach einigem Zögern sagte ich: »21. April 1902.«
Den Namen hatte sie schon von Max erfahren. Sie versprach, sich zu erkundigen, aber ich sah ihren Augen an, dass sie falsch und hinterhältig war, und als sie gegangen war, warnte ich Max, sehr vorsichtig zu sein.
An einem Nachmittag besuchte Frau Hilde ganz allein unsere Baracke. Die kleineren Kinder, denen sie nun schon vertraut war, drängten sich um sie. Sie hatten keine Ahnung von der Ge-fahr, die sie repräsentierte, und ich glaubte, sie benutzte diese Methode, um die vertrauensseligen Kinder über Schwester Luba auszuhorchen. Sie wollte zum Beispiel wissen, ob wir genug zu essen bekamen.
Sie rief mich zu sich auf eine untere Pritsche, und ich tat, was sie verlangte. Dann drehte sie sich zu mir und fragte: »Wie alt bist du?«
»Dreizehn«, log ich, weil ich noch immer an Schwester Lubas Warnung dachte.
Ich weiß nicht, ob sie wusste, dass ich log, es wäre für sie ein Leichtes gewesen, in den Unterlagen nachzuschauen. Es war Max, der mir weitere Fragen ersparte.
»Frau Hilde«, sagte er, »glauben Sie, wir könnten einen Cremekuchen bekommen? Ich hätte so gerne einen.«
Mein Gott, dachte ich, was für ein Mut, um so etwas zu bitten, aber Frau Hilde antwortete, sie wolle es versuchen. Dann zog sie Max näher zu sich, legte eine Hand über seine Genitalien und gab ihm einen Kuss. Max versuchte, sich aus ihrer Umarmung zu befreien, und die Frau ließ ihn, als sie unser Erstaunen sah, schnell los, stand auf und wandte sich zur Tür.
»Bis bald«, sagte sie zu Max und war verschwunden.
Max war ziemlich schockiert über diese Erfahrung, aber er fasste sich bald wieder.
Frau Hilde kam ein paar Tage später und drückte ihm eine Schachtel in die Hand. Darin fand er zwei Cremekuchen und ein mit Schinken und Salami belegtes Brot. Max gab mir die Schachtel und bedankte sich bei Frau Hilde für das Geschenk. Sie tätschelte seinen Kopf und ging bald darauf. Die Schachtel mit ihrem kostbaren Inhalt wurde Schwester Luba übergeben, die die Kuchen und das belegte Brot in winzige Stücke schnitt, sodass jedes Kind etwas abbekam.
Die winzigen Krümel schmeckten köstlich, und ich glaube auch nicht, dass einer von uns einen ganzen Kuchen hätte essen können, da unsere Mägen an solche Nahrung nicht mehr gewöhnt waren.
Bevor Frau Hilde gegangen war, hatte Max sie noch einmal gefragt, ob sie etwas über unseren Vater herausgefunden hatte, und sie hatte geantwortet, dass sie noch Nachforschungen anstellte.
Wären wir älter und klüger gewesen, hätten wir uns davor gehütet, uns mit einer solchen Bitte an eine SS-Frau zu wenden, denn die Fragerei gefährdete die Anonymität unseres Vaters im Lager. Max' Bitte, unseren Vater zu finden, würde die Aufmerksamkeit der SS auf ihn ziehen und das konnte fatale Folgen haben. Aber in unserer Naivität dachten wir nicht an so etwas.
Am Tag nach meinem Geburtstag kam mir der
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