Wir müssen leider draußen bleiben
lassen, gerät dort zur lustigen Anekdote: »Aber die feinen Damen hielten durch, erwiesen sich als ausdauernd und zäh. Die Händler staunten. Der Spott ließ nach, aus Verachtung wurde Hochachtung.« 66 Heute dürfen sich die Händler darüber freuen, dass sie Tafelspenden als soziales Engagement für die Imagepflege bewerben können.
Die Handelsketten haben einfach erkannt, dass sie von der Zusammenarbeit bestens profitieren: Sie sparen sich einen Teil der Entsorgungskosten. Dafür gehen die der Münchner Tafel für Paletten, Pappe, Verpackung und Biomüll in die Tausende pro Monat – trotz Sponsoren und Ver günstigungen der Münchner Abfallwirtschaft. Die Berliner Tafel muss zwischen 26 000 und 40 000 Euro Spenden pro Jahr für die Müllbeseitigung aufbringen. 67 Der Discounter Lidl nennt die Berliner Tafel noch heute »Entsorger« – sehr zum Ärger der Gründerin Sabine Werth.
Dimitri reißt Verpackungen auf und sortiert brauchbare – heißt: einwandfreie – Sachen in grüne Kisten. Die Tafeln müssen sich an Lebensmittelrichtlinien halten und werden entsprechend kontrolliert. Eine Selbstverständlichkeit, die die Tafeln allerdings extra betonen. »Wir geben nichts her, was wir nicht auch selbst essen würden«, wiederholen die Verantwortlichen gebetsmühlenartig. Man möchte nicht als Müllab fuhr verstanden werden, wenn man so hehre Ziele wie die Tafeln verfolgt. Nämlich nicht weniger als zwei der größten Probleme unserer Zeit gleichzeitig zu bekämpfen: Armut und Überfluss. Genau das ist der Grund, weshalb die Idee der Tafeln solche Anerkennung in der Gesellschaft findet: Rund 20 Millionen Tonnen Lebensmittel werden in Deutschland jedes Jahr weggeworfen, während immer mehr Menschen Not leiden. 68 Mehr als 11 Millionen Menschen leben in Deutschland nahe an oder unterhalb der Armutsgrenze. 69 Ein Gedanke, der auch in der Überflussgesellschaft für latentes Unbehagen sorgt. Doch die Tafeln, so scheint es, füllen diese Lücke zwischen Armut und Überschuss. »In Deutschland gibt es Lebensmittel im Überfluss – dennoch herrscht bei vielen Menschen Mangel. Die Tafeln bemühen sich um einen Ausgleich«, heißt auf dem Faltblatt des Tafelbundesverbands. Das Motto, das unter dem orangefarbenen Schriftzug »Die Tafeln« und dem Tellersymbol mit Messer und Gabel steht, lautet »Essen, wo es hingehört«; »Verteilen statt vernichten« ist das Credo der Münchner Tafel. Das klingt nach Verteilungsgerechtigkeit und »Anpacken statt Jammern«. Doch der moralisch verbrämte Pragmatismus verdeckt den schmalen Grat, auf dem sich die Tafeln bewegen, die Überflüssiges an Überflüssige verteilen.
Kunden ohne Rechte
Am Nachmittag bietet eine freundliche Tafelmitarbeiterin einer Bedürftigen einen Laugenring mit Butter und Schnittlauch an, doch die Frau mit russischem Akzent lehnt unwirsch ab. Die Miene der Ehrenamtlichen verdüstert sich auf der Stelle. »Die ist absolut frisch und gut«, ruft sie so laut und empört, dass es alle in der Schlange mitbekommen. »Dann eben nicht«, zischt sie hinterher und beißt demonstrativ selbst hinein. Vielleicht mag die Russin kein Laugengebäck, vielleicht wollte die ältere Dame, die sich zu diesem Termin stark geschminkt und einen Mantel mit Pelzkragen angezogen hat, nur auf sehr ungeschickte Weise selbstbewusst wirken. Solche Szenen spielen sich nicht selten ab. Meistens reagieren die Eh renamtlichen empfindlich, wenn die Bedürftigen Äpfel, Salat und Karotten in den Händen wiegen und braune Stellen oder welke Blätter monieren. »Das kann man doch wegschneiden«, sagen sie dann. Oder: »Das passiert Ihnen im normalen Supermarkt genauso.« Der Unterschied ist nur: Tafelnutzer sind darauf angewiesen, das zu essen, was normale Kunden im normalen Supermarkt liegen lassen. Sie haben nicht die Wahl. Und so wird der verzweifelte Versuch, ein Restchen Würde und Kundenstatus zu demonstrieren, oft genug als Undankbarkeit, Gier und Anspruchsdenken gewertet.
Die meisten Tafeln in Deutschland nennen ihre Nutzer tatsächlich »Kunden« und lassen sie einen symbolischen Euro zahlen, damit das Essen einen »Wert« erhält. 70 In der Konsumgesellschaft sind Teilhabe und Würde des Einzelnen an seinen Kundenstatus gebunden – und Freiheit bedeutet in der Konsumgesellschaft, aus einer scheinbar unendlichen Fülle zu wählen und scheinbar individuelle Kaufentscheidungen zu tref fen. Stephan Lorenz ist Soziologe an der Universität Jena und beschäftigt sich mit Konsum, Überfluss,
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