Wir müssen leider draußen bleiben
Freegan-Blogs mit Fotos der Ausbeute, die meist gewaltig ist, Fo ren, in denen sich Freeganer austauschen und Tipps geben; es gibt Contai ner-Ortsgruppen, die Lebensmittel untereinander tauschen, es gibt soga r T-Shirts für bekennende Freeganer, und manche linksalternativen WGs besorgen sich ihre Nahrungsmittel komplett aus dem Müll.
Sie verstehen das nicht nur als privaten Konsumboykott, sondern als Bewegung: als politischen Protest gegen das kapitalistische System, das auf Ausbeutung, Umweltzerstörung und Menschenrechtsverletzung bei der Lebensmittelproduktion gründet und Armut hervorbringt. Genau deshalb sind sie den Supermarktketten ein Dorn im Auge. Darum sperren die wiederum ihren Müll nachts weg oder umwickeln die Container mit Ketten; manche, so hört man in der Szene, schmeißen verdorbenes Essen oben drauf, sodass das gute Essen nicht mehr brauchbar ist, oder färben die Lebensmittel ein. In Großbritannien, wo es eine große Freegan-Szene gibt, werden sogar Wachdienste zur Verteidigung des Mülls beschäftigt.
In Berlin waren eine Zeit lang Container von Bio-Läden besonders beliebt. Denn seit Bio boomt und den Massenmarkt erreicht hat, seit auch Bio-Kunden so anspruchsvoll geworden sind, dass sie die ganze Produktpalette zu jeder Jahreszeit wünschen, seit Bio-Gemüse zu den Attributen des Öko-Glamours gehören, haben die zum alten Öko-Klischee verkommenen schrumpeligen Möhren ihre Daseinsberechtigung verloren. Auch bei Bio gibt es deshalb Überproduktion – und Überproduktion bedeutet, dass eine Menge Lebensmittel im Müll landen. Als vor ein paar Jahren ein Bio-Großhändler in einem Berliner Industriegebiet feststellte, dass bis zu 30 Freeganer jede Nacht die Mülleimer plündern, pappte er einen Aufkleber mit der Warnung »Vorsicht, Rattengift« auf die Container. 72 Gutes Essen im Müll – das passt so gar nicht zum sauberen, edlen und nachhaltigen Image der Bio-Läden. Vor allem aber sollen die Menschen das teure Obst und Gemüse schließlich kaufen; Qualitätsware verliert ihren Wert, wenn sie andere für umsonst aus dem Müll fischen.
2004 erstattete eine Filialleiterin der Supermarktkette Rewe Anzeige gegen eine Freeganerin; selbst Müll ist in Deutschland Eigentum, dessen Diebstahl strafbar ist. Ein paar alte Brote und zwei abgelaufene Joghurts hatte die Frau ergattert, die dann wegen »gemeinschaftlichen Diebstahls in einem besonders schweren Fall« vor Gericht stand, weil sie mit ihren »Mittätern« über den Zaun kletterte. Es war nicht die einzige Strafanzeige gegen Freeganer in Deutschland. Die Straßenmusikerin musste die Anwaltskosten tragen und 60 Stunden gemeinnützige Arbeit leisten. 73 Gleichzeitig ist die Rewe Group (Umsatz dieses zweitgrößten Lebensmittelhändlers in Deutsc hland: 53 Milliarden Euro) seit 1993 der größte Lebensmittelspender der Tafeln und unterstützt außerdem das Bundestafeltreffen. 74 Lebensmittelspenden aus dem Müll sind Teil der viel beworbenen »Nachhaltigkeitsinitiative« von Rewe, für die der Konzern 2010 den Deutschen Nachhaltigkeitspreis erhielt. 75 Zu den Beratern von Rewe gehört auch Joschka Fischer, der als stellvertretender Bundeskanzler der rot-grünen Regierung öffentlich für Hartz IV warb: » Hartz IV wird nicht massenhafte Verarmung hervorrufen, sondern bei Erhalt einer sozialen Grundsicherung mehr Chancen für den Zugang in den Arbeitsmarkt bieten«, so Fischer ein Jahr vor Inkrafttreten der Hartz-Gesetze. 76
Beim jährlichen Sommerfest der Bundestafel hat Rewe Bundespräsident Christian Wulff »in die Hand versprochen, weiterhin jeden Tag an die Tafeln zu spenden«. 77 Übersetzt bedeutet dieses Versprechen aber auch: Weiterhin werden jeden Tag noch verwertbare Nahrungsmittel in den Müll geschmissen.
Supermärkte als Profiteure der Lebensmittelverschwendung
Mit Nachhaltigkeit hat das allerdings nichts zu tun – denn Überproduktion und Verschwendung sind die Grundlage für den Profit der Handelsketten. Lebensmittelhersteller produzieren immer 120 bis 140 Prozent des realen Bedarfs, damit Engpässe, Verkaufsschwankungen , Transportprobleme und andere Störungen ausgeglichen werden können. 78 Ein gutes Vier tel aller Lebensmittel wird also wissentlich für den Müll produziert.
Es ist einer von vielen grundlegenden Widersprüchen des Tafelsystems, die sich nicht auflösen lassen: Zwar beteuern die Tafeln, den Überschuss zu bekämpfen – doch zugleich ist er ihr Geschäftsprinzip. Tafeln, Lebensmittelkonzerne und
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