Wir müssen leider draußen bleiben
Leinemanns unreflektierter Opfer-Blick zwingt den Leser zur Identifikation mit dem Erzähler-Ich. »Aus einer Tasche, die sie extra gepackt haben, holen sie eine dicke Treppensprosse hervor, herausgetreten aus einem gründerzeitlichen Treppengeländer dort, wo sie gerade wohnen. Die Gründerzeit hat beim Bauen geklotzt, nicht gekleckert – die Sprosse ist massiv und gedrechselt. In der Hand des Jüngsten wird sie zur wuchtigen Keule, zum Baseballschläger, damit wird er auf mich einschlagen. Absurd, ausgerechnet mit einem Gründerzeit-Treppenteil fast totgeschlagen zu werden. Normalerweise schreibe ich Romane, Unterhaltungsromane, und in meinem letzten spielt die Gründerzeit eine große Rolle.« Die kriminelle Unterschicht schlägt ausgerechnet mit Attributen der Großbürger auf selbige ein! So manchem Zeit -Leser wird vor Schreck der handgedrechselte, elfenbeinerne Eierlöffel aus der Hand gefallen sein. »Ich sehe die Täter an – und fühle nichts. Ich kenne diese drei Typen nicht, ich habe keine Geschichte mit ihnen, keinen Konflikt gehabt, nichts. Alles, was uns verbindet, ist die Tatsache, dass sie mich fast umgebracht haben. Einfach so, nebenbei, willkürlich. Im Grunde interessiert mich nicht, wer sie sind und warum sie so geworden sind, wie sie sind. Wenn ich hier kurz ihre Geschichte erzähle, dann nur im Interesse der Allgemeinheit, nicht der Täter – weil ich am eigenen Leib erfahren musste, dass im weiten, von der Öffentlichkeit blickdicht abgeschotteten Feld der Heimerziehung und Intensivpädagogik etwas furchtbar schiefläuft. Es wurden schon viel zu viele mitfühlende Tätergeschichten geschrieben, ich schreibe nicht noch eine. Eine kaputte Kindheit ist kein Freifahrtschein für Mord und Totschlag« vollendet Leinemann die Opferrolle rückwärts. Zwei der Täter werden später zu Haftstrafen verurteilt, fünf und viereinhalb Jahre, der dritte zu zweieinhalb Jahren auf Bewährung. »Es ist hart. Es ist richtig«, schreibt Leinemann am Ende.
Kann schon sein. Jedes Opfer möchte, dass die Täter hart bestraft werden. Empathie und Urteilsvermögen kann man nicht erwarten von einer Frau, die fast totgeschlagen wurde. Allerdings sprechen aus diesem Grund Richter die Urteile, nicht Opfer. Der ZEIT -Text ist bewusst »politically incorrect« geschrieben, gegen die vermeintlich ubiquitäre Nachsicht mit den Tätern, dafür mit der verzweifelten Wut des Opfers im Bauch. Er rührt, und das auf unangenehm berechnende Weise (»Frauen und Kinder zuerst!«), an das tiefe Unbehagen der Mittelschicht, er möchte Ausschluss und Abgrenzung rechtfertigen: Wenn die Autorin moniert, es würde jugendlichen Intensivtätern, die »blickdicht abgeschottet« sind, zu viel Mitgefühl entgegengebracht, fordert sie eigentlich zum Wegschauen auf. Ein Null-Toleranz-Plädoyer, das an das erinnert, was ein britischer Richter einem Jugendlichen sagte, als er die Randalierer im Sommer 2011 im Minutentakt zu drakonischen Strafen verurteilte: »Anständige Mitglieder der Gesellschaft haben Leute wie dich satt, wir sind eurer müde.« 285
Auch das ist Klassenkampf von oben. In einem journalistischen Erzeugnis, das zumindest versuchen müsste, Objektivität zu wahren. Doch anstatt Kritik zu ernten, erhielt das Stück von Leinemann die renommierteste Journalistenauszeichnung, die die Edelfedern des Landes untereinander austauschen: den Henri-Nannen-Sonderpreis. Sie hat offenbar die Richtigen angesprochen.
» In demselben Maße, in dem die Widerwärtigkeit der Arbeit wächst, nimmt der Lohn ab.«
Karl Marx, Das Manifest der kommunistischen Partei, Februar 1848
6. Das Ende der Solidarität
Wie die Politik zugunsten der Wirtschaft Arbeit zerstört und Menschen bricht
»Die Hemmschwelle für Sozialbetrug ist offensichtlich bei einigen gesunken, seitdem die Arbeitsverwaltung Sozialleistungen auszahlt und nicht mehr das Sozialamt. Arbeitsvermittler liefern drastische Beispiele dafür, dass manche, die sich arbeitslos melden, tatsächlich gar keine Vermittlung in den Arbeitsmarkt anstreben und Sozialleistungen zu erschleichen versuchen. Unter Zuhilfenahme von Schlupflöchern und geschickten Interpretationen von Bestimmungen versuchen wiederum andere, an öffentliche Leistungen auf eine Weise zu kommen, die den Geist der Reformgesetze auf den Kopf stellt.« 286
Diese Sätze hat, man merkt es allerdings nur an der Diktion, abermals nicht Bild geschrieben. Sie stammen aus einer Informationsbroschüre mit dem klingenden Titel Vorrang
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