Wir müssen leider draußen bleiben
für die Anständigen – Gegen Missbrauch, »Abzocke« und Selbstbedienung im Sozialstaat. Das Bundesministerium für Wirt schaft und Arbeit der rot-grünen Bundesregierung hat diese 32-seitige Propagandaschrift im August 2005 herausgegeben. Erst ein gutes halbes Jahr zuvor, im Januar 2005, war das vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt in Kraft getreten, kurz: Hartz IV. Dieses sollte die Zusammenführung von Arbeits- und Sozialhilfe sein; faktisch bedeutete es eine Kürzung sowohl der Arbeitslosen- als auch der Sozialhilfe. Letztere war bis dato zwar niedriger als das Arbeitslosengeld II, doch sie wurde im Bedarfsfall von den Sozialämtern aufgestockt, durch Zuschüsse zu Wohnungsausstattung, Schulmaterial und Kleidung sowie durch Extrageld zu Weihnachten. Hatte sich die Sozialhilfe noch an den individuellen Bedürfnissen orientiert, so werden die Hartz-IV-Leistungen pauschal vergeben. Und während vor der Arbeitsmarktreform die Dauer des Bezugs von Arbeitslosengeld (60 Prozent des vorherigen Monatsgehalts) davon abhing, wie lange der Empfänger zuvor sozialversichert beschäftigt war, endet das Arbeitslosengeld I heute bereits nach einem Jahr. Nur wer älter als 50 ist, erhält achtzehn Monate lang ALG I, die über 58-Jährigen zwei Jahre. Für alle, die nicht innerhalb eines Jahres eine neue Beschäftigung finden, bedeutet es einen rasanten Rutsch in die Armut.
Die Grundlage für die Einführung der Hartz-Gesetze war eine bis dahin beispiellose Hetzkampagne gegen Arbeitslose, ein Generalverdacht des Schmarotzertums, das »staatlich verordnete Misstrauen«, wie es der Publizist Albecht Müller in seinem Buch Meinungsmache. Wie Politik, Wirtschaft und Medien uns das Denken abgewöhnen wollen nennt. »Nieman dem wird es künftig gestattet sein, sich zulasten der Gemeinschaft zurückzulehnen. Wer zumutbare Arbeit ablehnt – wir werden die Zumutungskriterien ändern –, der wird mit Sanktionen rechnen müssen.« So stellte Kanzler Schröder die Agenda 2010 im Bundestag vor. Nicht etwa fehlende Stellen seien schuld an Arbeitslosigkeit, sondern die Arbeitslosen selbst, da sollten keine Missverständnisse entstehen. »Fördern und Fordern«, lautete das Motto. Wenn man Arbeitslose nur hart genug rannähme, das war der Subkontext, dann würden sie sich schon Arbeit suchen. Zwei Millionen neue Jobs versprach sich Schröder von den Sanktionen. Statt dass des Kanz lers Träume aber wahr wurden, erhöhte sich die Zahl der Erwerbslosen kräftig. Das musste, um es der Öffentlichkeit erklärbar zu machen, ebenfalls der verkommenen Moral der »Sozialschmarotzer« zugeschrieben werden – und nicht der wahren Ursache, nämlich der verfehlten Regierungspolitik, die die Aushöhlung der Arbeitnehmerrechte und die Lockerung des Kündigungsschutzes vorangetrieben hatte, was die Betriebe prompt zu einem massiven Stellenabbau nutzten.
Entsprechend schroff war die Sprache der Broschüre des Ministeriums, zu der Bundesarbeitsminister Wolfgang Clement persönlich das Vorwort beisteuerte: »Eine solche Mitnahme-Mentalität schadet der großen Mehrheit von Arbeitswilligen und tatsächlich Bedürftigen. Jeder Euro, der am Arbeitsmarkt ›abgezockt‹ wird, steht für sinnvolle Unterstützung nicht mehr zur Verfügung. Leistungsmissbrauch ist also kein Kavaliersdelikt, sondern Betrug an all denen, die Hilfe wirklich brauchen, und an Millionen Menschen, die ihre Steuern und Sozialabgaben ehrlich entrichten und die sich auf diesen Staat verlassen können müssen, wenn es einmal ernst wird. (…) Wir werden deshalb alles uns Mögliche tun, um Missbrauch aufzudecken und zu bekämpfen. Bestmögliche Hilfe für alle, die sich nicht aus eigener Kraft helfen können oder eine zweite Chance brauchen, aber auch unnachgiebige Konsequenz gegenüber jenen ›schwarzen Schafen‹, die sich Leistungen erschleichen wollen, das gehört auch zur Gerechtigkeit im Sozialstaat. Wir können die Zukunft unseres Landes nur meistern, wenn wir die Realität ungeschminkt und ohne falsche Rücksichten in den Blick nehmen.«
»Melkkuh Sozialstaat – die alltägliche Selbstbedienung am Gemeinwohl« ist das erste Kapitel überschrieben, ein Brevier von anekdotisch erzählten Betrugsfällen, das vor Hohn und Spott förmlich trieft: »›Steht im Morgengrauen ein nackter Kerl auf dem Balkon, und es ist nicht der Ehemann…‹ So beginnen Thekenwitze in Deutschland. Aber solche familiären Katastrophen ereignen sich nicht nur, wenn gehörnte
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