Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir müssen leider draußen bleiben

Wir müssen leider draußen bleiben

Titel: Wir müssen leider draußen bleiben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Hartmann
Vom Netzwerk:
Ehegatten früher als gewöhnlich ins traute Heim zurückkehren. Manchmal klingelt lediglich der Prüfdienst der ARGE – der Arbeitsgemeinschaft aus Arbeitsagentur und Kommune – frühmorgens an der Haustür. Dieter Schuster aus Mannheim wusste jedenfalls sofort, welche Richtung er einzuschlagen hatte, als er frühmorgens im Flur leise Stimmen und den Begriff ›Prüfdienst‹ hörte. Fluchtartig flitzte Schuster in Unterhose aus dem Schlafzimmer Richtung Terrassentür. Draußen empfingen ihn feiner Nieselregen und bibbernde Kälte – leider kam der Prüfdienst Anfang März.« 287 Angeblich ein Fall, der der Arbeitsagentur Mannheim untergekommen war. Es folgen weitere Anekdoten dieses Zuschnitts – »Kaum eine fadenscheinige Angabe oder Ausrede, die Mitarbeiter der Arbeitsagenturen und Sozialämter noch nicht gehört hätten!« – über verheimlichte Lebenspartner, Phantomwohnungen, Falschangaben in Anträgen, verdunkeltes Vermögen, Sozialbetrüger aus dem Ausland und Schwarzarbeit. Und »manch einer verspürt offenkundig nichts dabei, sich auf Kosten der Gemeinschaft eine neue Schrankwand zu finanzieren.« 288 In Deutschland, dieses Eindrucks sollte man sich offenbar kaum erwehren kön nen, feiern Sozialschmarotzertum und »Mitnahmementalität« fröhliche Urständ. »Biologen verwenden für ›Organismen, die zeitweise oder dauerhaft zur Befriedigung ihrer Nahrungsbedingungen auf Kosten anderer Lebewesen – ihren Wirten – leben‹, übereinstimmend die Bezeichnung ›Parasiten‹«. 289 Das stammt, man muss es noch einmal betonen, nicht etwa aus einer RTL 2-Dokusoap, sondern von der rot-grünen Bundesregierung.
    Wer einen solchen Popanz aufbaut, verfolgt zweierlei: Er rechtfertigt Maßnahmen, die unter anderen Umständen kaum durchzusetzen wären. In diesem Fall nämlich das Privatleben von Hartz IV-Empfängern auf unwürdigste Art und Weise zu durchleuchten, ja, sogar unter ihren Bettdecken zu schnüffeln. Dabei sind die Chancen, in großem Stil zu betrügen, ohnehin äußerst gering – während Reiche sich nahezu unbehelligt arm rechnen und ihr Vermögen ins Ausland schaffen können. Davon abzulenken, das ist der zweite Zweck des Schreckgespensts Sozialschmarotzer: Tatsächlich liegt die Missbrauchsquote der Hartz-IV-Empfänger bei gerade mal einem Prozent.
    Zusätzliche Arbeitsplätze aber wurden auf diesem Wege nicht geschaffen, im Gegenteil: Das so genannte »Jobwunder«, das die mittlerweile schwarz-gelbe Regierung Ende 2010 als Riesenerfolg vermeldete, war allein dem riesigen Niedrig lohn sektor geschuldet, der inzwischen geschaffen worden war: Heute arbeiten 7,3 Millionen Menschen in Mini-Jobs für 400 Euro im Monat, 900 000 Leiharbeiter für knapp die Hälfte des Lohns der Stammbelegschaft. Das bedeutet: Zehn Prozent der Deutschen haben eine Arbeit zweiter Klasse, von der sie mehr schlecht als recht leben können. Von den vielen Selbstständi gen, die sich gerade mal so über Wasser halten, in den Statistiken aber kaum auftauchen, von den Menschen, die von Umschulung zu Umschulung, von Praktikum zu Praktikum geschoben werden, um die Statistik zu frisieren, von dieser immer größeren Dunkelziffer also einmal ganz zu schweigen. Eine erschreckende Zahl straft die Legende des »Jobwunders« Lügen: Jeder vierte Arbeitslose rutscht sofort in Hartz IV. Das gab die Bundesagentur für Arbeit im Dezember 2011 bekannt. Demnach meldeten sich 2,8 Millionen Menschen arbeitslos, 737 000 hatten keinen Anspruch auf das Arbeitslosengeld I: Sie hatten zu kurz gearbeitet oder zu wenig verdient, um andere Ansprüche als Hatz IV geltend machen zu können. Heißt: wer erst einmal in die Abwährtsspirale von Hartz IV und prekärer Arbeit gelangt ist, der findet dort nicht mehr heraus.
    Arbeiter zweiter Klasse
    Auf dem Tisch mit der Plastiktischdecke liegt, beklebt mit Schnipseln von Geschenkverpackungen, eine Seite grünes Tonpapier. Darauf steht in schöner Handschrift eine Liste unter der Überschrift: »Was ich Dir heute, an Deinem großen Tag, so gerne schenken würde: Einen Führerschein. Ein Auto. Eine eigene Wohnung. Eine schöne Reise, wohin Du auch immer möchtest.« Und dann: »Du weißt, das alles kann ich leider nicht. Aber was ich Dir sagen kann, ist: Du bist das Beste, was mir in meinem Leben passiert ist. Du bist das Wichtigste in meinem Leben, mein Ein und Alles. Ich liebe Dich mehr als mein Leben.« Es ist eine selbst gebastelte Karte zum 18. Geburtstag von Fran ziska*. Ihre Mutter Birgit Kramer

Weitere Kostenlose Bücher