Wir müssen leider draußen bleiben
einmal nur eine »Kultur des Hinschauens« und mehr Zivilcourage gefordert. Ein Reparaturmechanismus, der dem Einzelnen alle Verantwortung zuschiebt.
Die Dominik-Brunner-Stiftung hat sich neben der Förderung von Zivilcourage und der Unterstützung von Opfern der Zivil courage auch vorgenommen, Gewaltbereitschaft einzudämmen. Sie unterstützt einige lobenswerte Projekte der Kinder- und Jugendhilfe und plant Dominik-Brunner-Häuser, in denen sie zusammen mit verschiedenen Trägern Kitas, Schülerbetreuung und Notunterkünfte einrichten möchte. Nicht zuletzt ist auch das eine posthume Ehrung Brunners, die weitere mediale Präsenz garantiert. Doch in München sind sie mit der Umsetzung des Plans gescheitert: Ein entsprechendes Haus war im Hasenbergl geplant. Die Nachbarn aber fürchteten Ghettobildung, das Projekt in München liegt vorerst auf Eis.
Die beiden Münchner Täter ohne Förderplatz an Hochbegabtenschulen ließen sich leicht als Monster darstellen. Dabei war ihr Leben bereits in frühen Jahren aus den Fugen geraten: Sebastian L.s Eltern ließen sich scheiden, als er vier war, Vater und Mutter waren Alkoholiker. Bereits mit zehn trank auch Sebastian, allein damit er schlafen konnte. Seine Mutter erlitt einen Hirnschlag, sie liegt noch immer im Koma, wenig später starb sein Vater an den Folgen seiner Alkoholkrankheit, der Junge fand den Toten. L. wurde in Heimen und anderen Einrichtungen untergebracht, aus denen er immer wieder weglief, er trank, kiffte, klaute, stets umgeben von anderen jungen Menschen, die ebenfalls auf die schiefe Bahn geraten waren. Ein Vertreter der Jugendgerichtshilfe beschrieb ihn als »traurigen, einsamen jungen Menschen«. Die familiären Verhältnisse von Markus S. blieben im Dunkeln, festgestellt wurde nur eine Fixierung auf den großen Bruder, seinen einzigen Halt, sein Vorbild. Der sitzt wegen Rauschgifthandels im Gefängnis, was in Markus S. offenbar unbändigen Hass auf die Polizei auslöste. Empathie wurde ihnen nicht zuteil. Die Chance auf eine Zukunft, die diese Bezeichnung verdient, bleibt ihnen verwehrt. »Wenn einer fünf Jahre sitzt, ist sein Leben vorbei«, sagt der Strafverteidiger und Buchautor Ferdinand von Schirach. »Der Mensch ändert sich natürlich, wenn man ihn zehn Jahre einsperrt – aber kaum zum Besseren.« 283
Für Eliteforscher Michael Hartmann ist die mediale Bearbeitung des Falls ein Beleg für seine Thesen. »Die Interpretation erfolgte nach einem bestimmten Weltbild: Das ist einer von uns! Wenn man immer nur mit Leuten zu tun hat, die denken, wie man selbst, dann reproduziert sich das – und dann wird es auch zur Wahrheit.«
Null-Toleranz-Strategie
»Eine Frau geht spätabends eine Straße in Berlin entlang. (…) Sie kennt die Straße gut, es ist der Schulweg ihrer Tochter, der Weg zum Kindergarten ihres Sohnes. Dies ist ihr Viertel, Wilmersdorf, hier lebt sie seit über zehn Jahren. Ihre Schritte sind gut zu hören, die neuen Stiefel haben laute Absätze, der Klang gibt Sicherheit.« Mit dieser Schilderung beginnt die wütende Geschichte, die Susanne Leinemann aufgeschrieben hat. »Der Überfall« erschien als Titelgeschichte im Zeit -Magazin Leben . 284 Leinemann wurde an diesem Abend Opfer eines bruta len Überfalls, drei Jugendliche raubten ihr die Handtasche und droschen mit einem Holzstück auf sie ein. Ein entsetzlicher Vorgang; sie hätte an ihren schweren Verletzungen – Schädelbruch, Hirnhautriss, Schädel-Hirn-Trauma – auch sterben können. Doch das Verstörende an diesem Text ist nicht die Beschreibung des Überfalls als solchem – es sind die Possessivpronomen: der Weg ihrer Tochter, der Kindergarten ihres Sohnes, ihr Viertel. »Um den Schock des Viertels zu verstehen, muss man Berlin verstehen. Natürlich, es gibt Kriminalität. Einbrüche. Überfälle. Trotzdem hat die Stadt viele intakte Kieze; umgrenzt von Ausfallstraßen, wirken sie wie Inseln. Um den Ludwigkirchplatz liegt ein solcher Kiez. Man kennt sich, grüßt sich, passt aufeinander auf. Probleme löst man durch Reden, viel Reden, manchmal auch mit Geld, bestimmt nicht durch Fäuste. ›Die machen unser Viertel kaputt‹, empört sich später eine Bekannte – die, das sind die Täter. Und tatsächlich, sie sind von außen angelandet, an einem U-Bahnhof, der ihnen nichts sagte«, schreibt Leinemann weiter. Wir hier drinnen, die da draußen – kaum ein Zeit -Leser wird sich gegen seine Eingemeindung ins Autorinnen-, ins Kiezbewohner-Wir innerlich gewehrt haben.
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