Wir nannten ihn Galgenstrick
aus ihrem Innern drang, grundlos und nur weil sie sich in dem alten Haus verlassen wußte. Sie versuchte zu reagieren und vermochte es nicht. Die Angst hatte sie ganz in den Fängen und verharrte dort, starr, hartnäckig, fast körperhaft, als sei sie ein unsichtbarer Mensch, der sich vorgenommen hatte, ihr Zimmer nicht zu verlassen. Noch stärker beunruhigte sie, daß diese Angst nicht die geringste Rechtfertigung besaß, daß es eine einzige, grundlose, unerklärliche Angst war. Dicker Speichel lag auf ihrer Zunge. Quälend war dieses zähflüssige Gummi zwischen den Zähnen, das ihren Gaumen belagerte und floß, ohne daß sie ihm Einhalt gebieten konnte. Es war ein Verlangen, anders als Durst. Ein über alles gehendes Verlangen, das sie zum ersten Mal in ihrem Leben verspürte. Einen Augenblick lang vergaß sie ihre Schönheit, ihre Schlaflosigkeit und ihre irrationale Angst. Sie kannte sich selber nicht mehr. Einen Augenblick dachte sie, die Mikroben hätten ihren Körper verlassen. Es kam ihr vor, als wären sie im Schlepptau ihres Speichels gekommen. Ja, all das war gut und schön. Schön, daß die Insekten sie entvölkert hatten und sie nun schlafen konnte, doch dazu war es notwendig, daß sie ein Mittel fand, um jenes ihre Zunge verklebende Harz aufzulösen. Wenn es ihr gelänge, bis zur Speisekammer zu gelangen und . Aber woran dachte sie? Sie war baß erstaunt. Nie hatte sie ein »solches Verlangen« verspürt. Die Stärke der Säure hatte sie geschwächt, hatte die Disziplin, der sie soviele Jahre seit dem Tag, an dem »das Kind« beerdigt worden war, getreulich gefolgt war, wertlos gemacht. Es war Torheit, aber sie verspürte Widerwillen, eine Orange zu essen. Sie wußte, daß »das Kind« zu den Orangenblüten emporgeklettert war und daß die Früchte des nächsten Herbstes von seinem Fleisch schwellen, von der ungeheuren Frische seines Todes erfrischt sein würden. Nein. Sie könnte sie nicht essen. Sie wußte, daß unter einem jeden Orangenbaum auf der ganzen Welt ein Kind begraben lag, das die Früchte mit dem Kalk seiner Knochen versüßte. Trotzdem mußte sie jetzt eine Orange essen. Es war die einzige Medizin gegen dieses Gummi, das sie erstickte. Es war Torheit anzunehmen, daß »das Kind« in einer Frucht war. Sie würde diesen Augenblick nutzen, in dem die Schönheit ihr nicht mehr weh tat, um bis zur Speisekammer zu gelangen. Aber . war das nicht sonderbar? Es war das erste Mal in ihrem Leben, daß sie wirkliches Verlangen verspürte, eine Orange zu essen. Sie wurde fröhlich, fröhlich. Ah, welches Vergnügen! Eine Orange zu essen. Sie wußte nicht warum, doch nie hatte sie ein so gebieterisches Verlangen verspürt. Sie würde aufstehen, glücklich, wieder eine normale Frau zu sein, froh singend würde sie in die Speisekammer gelangen, froh singend wie eine junge, jüngst geborene Frau. Sie würde sogar bis in den Innenhof gelangen und ...
Plötzlich riß ihre Erinnerung ab. Sie erinnerte sich, daß sie versucht hatte, aufzustehen und daß sie nicht mehr in ihrem Bett lag, daß ihr Körper verschwunden war, daß ihre dreizehn Lieblingsbücher nicht mehr da waren und daß sie nicht mehr sie war. Jetzt war sie körperlos, schwebend, sie schwamm über einem vollständigen Nichts, verwandelt in einen formlosen, winzigkleinen, richtungslosen Punkt. Sie vermochte das Geschehen nicht genau zu bestimmen. Sie war verwirrt. Sie hatte nur die Empfindung, daß jemand sie in einen Abgrund hinuntergestürzt hatte. Sie fühlte sich in ein abstraktes, imaginäres Wesen verwandelt. Sie fühlte sich in eine körperlose Frau verwandelt, so, als wäre sie mit einemmal in jene hohe unbekannte Welt der reinen Geister eingetreten.
Wieder befiel sie Angst. Doch es war eine vom Augenblick zuvor verschiedene Angst. Es war nicht mehr die Angst vor dem Weinen »des Kindes«. Es war Entsetzen vor dem Seltsamen, dem Geheimnisvollen und Unbekannten ihrer neuen Welt. Und zu denken, daß all das derart harmlos, mit so großer Ahnungslosigkeit ihrerseits vor sich gegangen war! Was würde sie ihrer Mutter sagen, wenn diese nach Hause kam und von dem Ereignis erfuhr? Sie begann an die Aufregung zu denken, die unter den Nachbarn entstehen würde, wenn sie die Tür zu ihrem Zimmer öffneten und entdeckten, daß ihr Bett leer war, daß niemand hatte hereinoder herauskommen können und daß sie dennoch nicht darin war. Sie stellte sich die verzweifelte Gebärde ihrer Mutter vor, die das ganze Zimmer nach ihr durchsuchte,
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