Wir nannten ihn Galgenstrick
Mutmaßungen anstellte und sich selber fragte, »was aus dem kleinen Mädchen geworden war«. Sie sah die Szene vor sich. Die Nachbarn würden herbeieilen und Meinungen, darunter böswillige Meinungen, über ihr Verschwinden äußern. Ein jeder von ihnen würde der eigenen und für ihn besonderen Denkweise gemäß denken. Ein jeder von ihnen würde versuchen, die logischste, die zumindest annehmbarste Erklärung anzubieten, während ihre Mutter, verzweifelt nach ihr rufend, durch die Gänge des Herrenhauses rennen würde.
Sie würde dabei sein. Würde den Augenblick betrachten, Einzelheit für Einzelheit, aus einer Ecke, von der Decke herab, aus den Mauerritzen, aus irgendeinem Versteck; vom günstigsten Blickwinkel aus, beschirmt von ihrem körperlosen Zustand, von ihrer Raumlosigkeit. Daran zu denken, machte sie unruhig. Nun wurde sie sich ihres Irrtums bewußt. Sie würde keinerlei Erklärung abgeben, nichts aufklären, niemanden trösten können. Kein lebendes Wesen könnte über ihre Verwandlung in Kenntnis gesetzt werden. Nun würde sie vielleicht das einzige Mal, daß sie ihrer bedurfte keinen Mund haben, keine Arme, damit alle erführen, daß sie da war, in ihrem Winkel, durch unrettbare Entfernung von der dreidimensionalen Welt getrennt. Sie war in ihrer neuen Welt abgesondert und wurde vollständig daran gehindert, Sinneswahrnehmungen zu empfangen. Doch etwas zitterte jeden Augenblick in ihr, ein Beben durchlief sie, überschwemmte sie, unterrichtete sie über jenes andere körperliche Weltall, das sich außerhalb ihrer Welt bewegte. Sie hörte nicht, sah nicht, wußte aber von diesem Ton und diesem Bild. Und dort, auf den Höhen ihrer erhabenen Welt, begann sie zu erfahren, daß eine Aura der Angst sie umgab.
Erst vor einer Sekunde - in Übereinstimmung mit unserer zeitlichen Welt - hatte sich der Übergang vollzogen, so daß sie erst jetzt die Eigenarten, die Charakteristiken ihrer neuen Welt kennenzulernen begann. Um sie kreiste tiefste, wurzelhafteste Dunkelheit. Bis wann würde diese Finsternis andauern? Würde sie sich auf ewig daran gewöhnen müssen? Ihre Angst nahm an Intensität zu, als sie sich in diesem dichten, undurchdringlichen Nebel versunken wußte: Ob sie in einer Vorhölle schmachtete? Sie erzitterte. Sie erinnerte sich an alles, was sie über die Vorhölle hatte sagen hören. Wenn sie in Wirklichkeit da war, schwebten neben ihr andere reine Geister von Kindern, die ohne Taufe gestorben waren, die tausend Jahre hindurch dem Tode verfallen waren. Sie versuchte sich diesen Wesen im Schattenreich zu nähern, die so viel reiner, so viel schlichter sein mußten als sie selber. Vollständig getrennt von der physischen Welt, zu einem schlafwandlerischen und ewigen Leben verurteilt. Vielleicht suchte »das Kind« einen Ausgang, um zu seinem Körper zu gelangen.
Doch nein. Warum sollte sie wohl in der Vorhölle sein? War sie etwa tot? Nein. Es war einfach eine Veränderung des Zustands, ein normaler Übergang aus der physischen Welt in eine leichtere, weniger komplizierte Welt, in der alle Dimensionen ausgelöscht worden waren.
Jetzt hatte sie nicht mehr unter den subkutanen Insekten zu leiden. Ihre Schönheit war zerfallen. Jetzt, in dieser Grundsituation, konnte sie glücklich sein. Wenn auch - oh! - nicht vollkommen glücklich, weil ihr größter Wunsch, der Wunsch, eine Orange zu essen, nicht mehr zu verwirklichen war. Es war das einzige, weshalb sie noch gerne in ihrem ersten Leben gewesen wäre. Um das Bedürfnis nach Säure zu befriedigen, das nach dem Übergang noch in ihr wach war. Sie versuchte sich zu orientieren, um in die Speisekammer zu gelangen und wenigstens die frische säuerliche Gesellschaft der Orangen zu spüren. Jetzt entdeckte sie eine neue Eigenart ihrer Welt: sie war im Haus überall, im Hof, auf dem Dach, sogar im Orangenbaum »des Kindes«. Sie war in der ganzen jenseitigen körperlichen Welt. Und doch war sie nirgendwo. Von neuem wurde sie unruhig. Sie hatte die Kontrolle über sich verloren. Sie war einem höheren Willen ausgeliefert, sie war ein unnützes, ungereimtes, unbrauchbares Wesen. Ohne zu wissen warum, wurde sie mit einemmal traurig. Fast begann sie Sehnsucht nach ihrer Schönheit zu leiden: nach der Schönheit, die sie töricht vergeudet hatte.
Doch eine großartige Idee belebte sie wieder. Hatte sie nicht sagen hören, daß die reinen Geister nach Belieben jeden beliebigen Körper durchdringen können? Was konnte sie schließlich verlieren, wenn sie es
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