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Wir nennen es Politik

Wir nennen es Politik

Titel: Wir nennen es Politik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Weisband
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abstimmen, sondern auch selbst Anträge stellen. Manchmal habe ich keine Lust oder keineZeit und delegiere meine Stimme über Monate global für alle Fragen an eine andere Person meines Vertrauens. Nicht jeder muss sich an Politik beteiligen wollen. Aber wir müssen es jedem ermöglichen, Verantwortung für die Gesellschaft zu tragen, wenn er es will.
    Das Prinzip der freien Stimmdelegation ist der Dreh-und Angelpunkt der Liquid Democracy. Die Übertragung der eigenen Stimme auf eine Person des Vertrauens ist das, was wir im Prinzip schon die ganze Zeit machen. Aber nur alle vier Jahre, wenn Wahlen angesetzt sind. Dann sagen wir, dass eine Partei und ein Direktkandidat mit unserer Stimme im Parlament sprechen sollen. Im Gegensatz zur Liquid Democracy können wir unsere Stimme aber nur an einen eingeschränkten Personenkreis delegieren und bekommen sie vier Jahre lang nicht zurück. Außerdem müssen wir sie unbedingt delegieren, wir können sie nicht behalten. In der liquiden Demokratie haben wir einen viel größeren Handlungsspielraum. Wir können unsere Stimme selbst benutzen oder an einen Freund übertragen oder an einen Berufspolitiker. Wir können sie für eine einzelne Abstimmung, für einen ganzen Themenbereich oder für alle Themenbereiche global übertragen.
    Erst mal entstehen daraus viele Optionen. Aber wie werden sich Menschen verhalten? Es ist zu erwarten, dass ein Großteil der Stimmen delegiert wird. Meistens an Personen aus der eigenen Umgebung, an Bekannte. Diese Menschen kennen sich oft besser mit dem Thema aus als man selbst. Damit sammeln sich mehr Stimmen dort, wo die Kompetenz größer ist. Diese Personen aus der Umgebung können ihre gesammelten Stimmen wieder weitergebenan die kompetentesten Menschen, denen sie vertrauen. Vielleicht landet am Ende sogar ein großer Teil der Stimmen bei Berufspolitikern. So wie heute auch.
    Es gibt aber ganz wichtige Unterschiede. Erstens wählt man kein fertig geschnürtes Paket von Zielen, wie man es bei der Wahl von Parteien tut. Ich kann mir mit liquider Demokratie mein eigenes Menü aus politischen Ansichten zusammenstellen. Ich kann die Sozialpolitik der SPD, den Nichtraucherschutz der Grünen und die Netzpolitik der Piraten wählen. Zweitens bekommen meine Stimme nicht irgendwelche Leute, die auf der Parteiliste ganz oben stehen, sondern jene, die das meiste Vertrauen auf sich vereinen. Viele haben die Befürchtung, dass es sich dann um eine »Expertokratie« handelt, weil besonders die gefragt sind, die mehr wissen als andere, also Experten sind. Jedoch ist jeder dieser »Experten« demokratisch legitimiert und diese Legitimation kann jederzeit wieder entzogen werden. Ein Mensch bekommt immer nur so viel Macht, wie andere ihm zugestehen. Wir bilden kein geschlossenes Gremium. Im Gegenteil. Wenn wir uns die Delegationsketten von oben ansehen, dann bilden wir Netzwerke. In diesen Netzwerken gibt es Endnutzer, also einfach Leute, die ihre Stimme delegieren. Es gibt kleine Knotenpunkte und es gibt große Knotenpunkte. Die größten Knotenpunkte haben den meisten Einfluss. Sie sind aber nicht aus purem Zufall die größten, sondern weil Menschen das wollen. Weil man Stimmübertragung jederzeit verändern kann, ist dieses Netzwerk nicht statisch. Es ist jederzeit aktiv und ändert sich ständig. Wie ein Gehirn.
Wir bauen Netze
    Szenenwechsel. Wir zoomen also von der Ebene unseres Landes ganz tief hinein, bis auf Zellgröße. Wir gehen in ein anderes Netzwerk, das menschliche Gehirn. Das Gehirn ist eine unübersichtliche Maschine, die Informationen verarbeitet und Entscheidungen produziert. Eigentlich wie die Politik. Wenn wir selbst Politik machen wollen, ist es gut, das menschliche Gehirn zu betrachten. Politik wird ja sozusagen vom Gehirn gemacht. Von vielen Gehirnen sogar.
    Das Gehirn beschafft sich seine Informationen über die Sinnesorgane. Nase, Ohren, Augen und so weiter. Die Infos kommen an und müssen irgendwie verarbeitet werden. Die ersten Nervenzellen in den Wahrnehmungszentren melden die ankommende Aktivität an alle Zellen weiter, mit denen sie direkt verbunden sind. Sie sprechen quasi mit ihren Bekannten. Und diese verbreiten die Information in ähnlicher Weise immer weiter. Einige der Zellen betätigen sich dabei als Bremser. Sie geben die Information nicht weiter, sondern behaupten das Gegenteil. Sie hemmen das Netzwerk und bilden so einen wichtigen Filter und einen Schutz vor Reizüberflutung. Jede Information wird zu einem kleinen

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