Wir nennen es Politik
unsere Demokratie weiter. Wir experimentieren mit neuen Regeln und finden so bessere Lösungen.
Wir führen heute wieder Debatten darum, wer wählen darf und wie. EU-Bürger dürfen auch in Ländern, in denen sie nicht die Staatsbürgerschaft haben, an Kommunalwahlen teilnehmen. Das Wahlalter wurde für Kommunalwahlen gesenkt, und für die Landtagswahlen gibt es dazu mittlerweile Pläne und Anträge in einigen Parlamenten. Der Kreis der Wahlbeteiligten wird immer mehr ausgeweitet. Oder andersherum, immer weniger Menschen werden davon ausgeschlossen, bei den Entscheidungen, die sie betreffen, mitzuwirken.
Nicht nur die Frage, wer wählen darf, wird von verschiedenen Gesellschaften anders gesehen und verändert sich mit der Zeit, sondern auch wie gewählt wird. Das momentane deutsche Wahlsystem ist eine Weiterentwicklung der Verhältniswahl, wie es die Weimarer Republik kannte. Aber anstatt ausschließlich Parteilisten zur Wahl zu stellen, werden circa die Hälfte der Bundestagsmandate über Direktkandidaten in den Wahlkreisen vergeben. Es ist der Versuch, zwei wichtige Elemente miteinander zu verbinden. Eine Verhältniswahl soll dafür sorgen, dass die Meinungen im Parlament ungefähr so stark vertreten sind, wie die Meinungen in der Bevölkerung. Wenn also die Hälfte der Menschen eine konservative Partei wählt, solltesie auch ungefähr die Hälfte der Sitze im Parlament bekommen. Leider funktioniert diese Art von Repräsentation nur für große Gruppen. Man benötigt Zusammenschlüsse von Kandidaten, die sich gemeinsam organisieren und für die abgestimmt wird. Mit diesem Wahlmodus fördert man also Parteistrukturen, und damit oft eher undurchsichtige Machtverhältnisse, und schwächt die Kontrolle der Wähler über einzelne Kandidaten. Denn Wähler können nun nicht mehr über Einzelpersonen abstimmen. Deshalb hat unser momentanes Wahlrecht zusätzlich noch die Direktkandidaten. Sie werden im Wahlkreis gewählt, und der Sieger zieht ins Parlament ein. Er ist direkt den Einwohnern seines Wahlkreises verpflichtet.
Es gibt Untersuchungen 1 , die zeigen, dass es einen deutlichen Unterschied für die Arbeit von Mandatsträgern macht, ob sie durch ihren Wahlkreis oder ihre Parteiliste in ein Parlament gekommen sind. Das heißt nicht, dass die einen schlechtere Arbeit leisten als die anderen. Aber es zeigt, wie viel Einfluss wir auf Politik nehmen können, allein dadurch, dass wir die Spielregeln weiterentwickeln und an unsere Bedürfnisse anpassen.
Wir entwerfen also durch Spielregeln Räume – und zwar solche, die möglichst breite Partizipation erlauben. Ein Argument, das ich sehr oft gegen Mitbestimmung höre, ist,
dass die Mehrheit des Volkes sehr schnell die Todesstrafe für Sexualstraftäter einführen würde oder die Rechte von Minderheiten einschränken würde.
Denn wo die Mehrheit über das Recht entscheidet, besteht immer die Gefahr, dass sie zu ihrem Vorteil eine Minderheit unterdrückt und ausbeutet. Um eine solche »Diktatur der Mehrheit« zu verhindern, haben wir uns auf einen Katalog von Rechten geeinigt, die jedem Menschen zustehen. Dies sind unsere Grund- und Menschenrechte, derer uns auch die größte demokratische Mehrheit nicht ohne weiteres berauben kann. 2
Wir haben uns diese Grenze selbst auferlegt, nachdem wir mehrfach schmerzhaft erleben mussten, dass wir kollektiv vergessen, wofür wir uns als Gesellschaft einsetzen wollten: für die Freiheit der Menschen, auch wenn uns nicht alles gefallen mag, was freie Menschen tun. Für die sichere Existenz der Menschen, auch wenn sie uns Geld kostet. Und für das Leben und die Würde der Menschen, auch wenn es zuweilen die Dinge verkompliziert, wenn man darauf Rücksicht nimmt, anstatt »mal richtig aufzuräumen«.
Jedes Mal, wenn das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt, funktioniert diese Selbstbeschränkung – und sie funktioniert unabhängig davon, ob die Bürger durch direkte Abstimmung ein Gesetz beschließen oder ein Parlament dies tut.
Bei alleine neun verfassungswidrigen Bundesgesetzen im Jahre 2010 erscheint es zumindest zweifelhaft, dass gewählte Volksvertreter rücksichtsvoller mit den Grundrechten der Menschen umgehen als diese selbst. Somit spricht nichts dagegen, den Bürgern mehr unmittelbaren Einfluss auf die politische Gestaltung einzuräumen.
Dynamische Systeme
Wir haben einen politischen Raum mit festen Regeln gebaut, ein starres System, das sich schwertut, auf neue Sachverhalte und Probleme
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