Wir nennen es Politik
Feuerwerk an elektrischen Impulsen, das verschiedene Stationen der Verarbeitung durchläuft. Irgendwann landet das Signal als Muster von Impulsen im vorderen Bereich des Großhirns, der sozusagen das Parlament des Gehirns darstellt. Da werden die Signale mit Erinnerungen abgeglichen und es werden verschiedene Reaktionsalternativen abgerufen und bewertet.So: »Mal sehen, ich erkenne, dass ein Mädchen sich zu mir vorbeugt und die Lippen spitzt. Ah, ich erinnere mich. Das ist die Vorbereitung auf einen Kuss. Oh ja, ich möchte sie küssen. Wir hätten sicher eine schöne Zeit. Huch, mein Emotionszentrum meldet mir Nervosität und Erregung. Wird sie mir später wehtun? Sollte ich lieber weglaufen? Nein, dann ist sie verwirrt und beleidigt. Die bessere Entscheidung hier ist Küssen. Hey, motorisches Zentrum! Kuss einleiten. Sofort!«
Aber sehen wir uns an, wie diese theoretischen Gedanken alle zustande kommen: Ausschließlich über kleine dumme Nervenzellen, die alle nur eine simple Sache können: Strom leiten. Sie können nur aktiviert oder nicht aktiviert sein, bloß 1 oder 0. Trotzdem bauen sie eine Rechenleistung auf, die wir mit keinem Computer bisher hinbekommen. Weil sie viele sind und weil sie gut vernetzt sind. Netzwerke sind eine großartige Art, Informationen zu verarbeiten. Das hat diverse Gründe, die ich im Folgenden an einem viel simpleren Netzwerk erklären möchte.
Nehmen wir mal Twitter: Auf Twitter kann ich kurze Nachrichten verfassen, die automatisch an all die Nutzer verschickt werden, die sich für mich interessieren (sogenannte Follower). Meistens folgt man seinen Freunden oder interessanten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Manche Leute haben nur zwei Follower, also einen recht kleinen Leserkreis für ihre Nachrichten. Andere haben Hunderttausende. Das Interessante an Twitter ist, dass man eine empfangene Nachricht mit einem Klick an alle seine Follower weiterleiten (retweeten) kann. Wenn jemand,dem ich folge, eine interessante Nachricht schreibt, dann leite ich sie gerne an alle weiter, die mir folgen. Damit ist die Nachricht nicht nur unter seinen acht Followern verbreitet, sondern auch unter meinen hundertzwölf. Nun ist Twitter eben ein riesiges Netzwerk, auf dem es große Knotenpunkte (zum Beispiel Prominente) und kleine Knotenpunkte gibt. Damit lässt sich perfekt aufzeigen, wieso ein Netz eigentlich so gut Informationen verarbeiten kann: Das Netzwerk verbreitet tendenziell die relevanten Inhalte, während die irrelevanten eher untergehen. Was sind relevante Inhalte? Das Lustige oder das politisch Überzeugende oder das Kluge? Das entscheiden die Nutzer. Deshalb ist das Internet eine in sich demokratische Struktur. Ich kann mir vorstellen, was manche von Ihnen jetzt denken. Wieso sollte denn gerade die Masse wissen, was relevant ist und was nicht? Das ist eine schwierige Frage. Aber ich glaube an die Menschen. Und wenn wir es wirklich ernst meinen mit der Demokratie, dann sollten wir das alle tun.
Das Internet verarbeitet Information in dem Maß, in dem eine Gesellschaft diese Information will. Nicht von Flaschenhälsen und einzelnen Entscheidern gefiltert. Wie funktioniert das? Claudia ist neu bei Twitter. Inzwischen folgen ihr fünf ihrer Freunde und drei weitere Personen, die sie nicht kennt. Heute Morgen hat Claudia getwittert, dass ihr Toast verbrannt ist. Das haben ihre Freunde gelesen und nicht weiter kommentiert. Es war nicht interessant. Am Nachmittag beschäftigt Claudia sich mit der Anonymitätsdebatte im Internet. Sie ist sauer und twittert:»Hinter der Argumentation ›Anonymität führt zu Unhöflichkeit‹ steht das Menschenbild, dass Menschen nur aus Angst vor Strafe höflich sind.« Zwei von Claudias Freunden finden den Gedanken so gut, dass sie ihre Nachricht weiterverbreiten. Tim hat 20 Follower, die die Nachricht jetzt auch bekommen. Mareike ist schon länger dabei und politisch aktiv. Sie hat 1082 Follower. Unter diesen finden sich fünf, die Claudias Nachricht über Mareike bekommen haben und sie ebenfalls weiterverbreiten. Und so weiter. Nach einer Weile ist Claudias Nachricht bei 150.000 Menschen angekommen. Obwohl sie selbst eigentlich nicht großartig vernetzt ist.
Während eine irrelevante Information versandet, aktiviert eine relevante Information riesige Teile des Netzwerks. Dadurch spielt sie eine relevante Rolle im Diskurs. Die Aufmerksamkeitssteuerung im Gehirn funktioniert übrigens genauso. Relevante Reize beschäftigen das ganze System,
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