Wir nennen es Politik
werde auch gelegentlich gefragt, wie oft ich mich im realen Leben mit Freunden treffe. Komische Frage! Alles ist das reale Leben. Meine Freunde sind immer real. Es spielt keine Rolle, ob wir bei mir zuhause kochen, in einem Café sitzen, telefonieren oder chatten. Es sind meine Freunde und ich möchte frei und ohne Einschränkung mit ihnen kommunizieren können. Wir sprechen nicht mehr bloß von Netzneutralität, sondern von Plattformneutralität. Unter einer Plattform versteht Seemann jede Infrastruktur, die wir zur Kommunikation miteinander nutzen. Demnach wäre auch ein Kongress eine Plattform, ein Parlament, eine Talkshow, ein Café, eine Firma und so weiter. Plattformneutralität bedeutet die prinzipielle Gleichbehandlung aller Nutzer und Inhalte der Plattform. Eine nicht neutrale Plattform wäre zum Beispiel ein Café, in dem man sich nur in einer bestimmten Sprache unterhalten darf oder in dem die Gäste nur über positive Dinge reden dürfen. Eine absurde Idee.
Mir liegt besonders am Herzen, dass unsere politischenPlattformen neutral sind. Jeder sollte sich beteiligen können, unabhängig von wirtschaftlichen und sozialen Status, Geburtsmerkmalen und so weiter. Leider ist das immer noch eine Utopie und der Anspruch ein politisches Gesamtprojekt, aus dem sich Forderungen an alle Bereiche ableiten lassen. Wir wollen zum Beispiel jedem die Teilhabe an Politik ermöglichen, ohne wirtschaftliche Abhängigkeiten. Von da bin ich ganz schnell beim bedingungslosen Grundeinkommen. Ich möchte, dass alle die gleiche Chance haben, an Debatten teilzunehmen und diese zu verstehen. Es geht also auch um die Angleichung der Bildungschancen. Plattformneutralität bedeutet, dass Menschen unabhängig von ihrer Herkunft und ihrem Einkommen die gleichen Chancen haben. Das ist ein relativ »linker« oder sozialer Gedanke. Wenn wir uns aber anschauen, was das Ziel ist, das wir damit erreichen – nämlich größtmögliche Beteiligung und Redefreiheit für alle –, dann ist es eine ebenso liberale Idee. Plattformneutralität und der ganze Komplex um Netzwerke vereinten also soziale und liberale Grundforderungen. Grundforderungen, die jeweils von unterschiedlichen politischen Lagern beziehungsweise Parteien gefordert werden. Sozialliberal ist ein Etikett, das ich ganz gerne für die Piratenpartei benutze, weil sie vermeintlich widersprüchliche Ziele durch neue Möglichkeiten und eine neue Denkweise gemeinsam verwirklichen möchte. Bis zu echter Plattformneutralität im politischen Betrieb ist es tatsächlich noch ein weiter Weg. Aber um das Wahlprogramm der Piratenpartei soll es an dieser Stelle ja nicht gehen.
Sowohl in der liquiden Demokratie als auch in der klassischenrepräsentativen Demokratie gibt es Netzwerke. Aber die Netzwerke der liquiden Demokratie sind durch den Mechanismus der freien Stimmgewichtsübertragung relativ neutral und flexibel, während die Netzwerke der klassischen Politik, wo es viel auf persönliche Kontakte und wirtschaftlichen Einfluss ankommt, weniger neutral und starrer sind. Wir wollen die Struktur, die möglichst viel Teilhabe ermöglicht. Ich spreche hier übrigens von echter Teilhabe. Es gibt ja durchaus schon Versuche, Teilhabe zu simulieren. Ein Beispiel sind Bürgerbefragungen und Volksentscheide. Meistens werden Menschen dabei mit zwei feststehenden Möglichkeiten konfrontiert und müssen sich zwischen beiden entscheiden. Bauen wir eine Musikhalle oder nicht? Benennen wir den Hindenburgplatz in Schlossplatz um oder nicht? Kompromisse sind mit Beginn der Beteiligungsphase nicht mehr möglich. Es ist immerhin ein erster Schritt, überhaupt mal Mehrheiten abzufragen, aber echte Partizipation beginnt schon bei der Fragestellung. Menschen müssen in die Lage versetzt werden, die Fragen und die Alternativen selbst auszuarbeiten. Im besten Fall können sie selbst Anträge stellen. Natürlich wird unter der Vielzahl an Anträgen auch jede Menge vermeintlicher Unsinn dabei sein. Dieser sollte dann herausgefiltert werden, und zwar nicht von einzelnen Menschen oder Institutionen, sondern vom Netzwerk selbst.
Alte Netze – Parteigliederungen
Ehe ich über praktische Umsetzungen von Liquid Democracy schreibe, möchte ich noch einen Aspekt hervorheben, der dabei wichtig ist. Er hat mit den bestehenden Netzwerken der repräsentativen Demokratie zu tun und mit dem politischem Diskurs. Der politische Diskurs ist all das, worüber wir Menschen (bzw. unsere Politiker) streiten. Er ist ein ständiger Prozess,
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