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Wir nennen es Politik

Wir nennen es Politik

Titel: Wir nennen es Politik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Weisband
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zu reagieren. Um unsere Gesellschaft flexibel gestalten zu können, benötigen wir jedoch einen ständigen politischen Diskurs und die Möglichkeit jederzeit verbindliche und demokratisch legitimierte Entscheidungen zu treffen. Der Grundgedanke der antiken Demokratie war, dass alle stimmberechtigten Bürger sich versammeln und selbst über die Gestaltung ihres Lebensraums beraten und abstimmen sollen. Mit zunehmender Anzahl von Bürgern wurde diese direkte Form der Demokratie allerdings sehr mühsam und irgendwann als unpraktikabel verworfen. Heute entsenden wir direkt oder indirekt gewählte Vertreter, die sich im kleinen Kreis versammeln und mit unserer Stimme sprechen. Bei dieser repräsentativen Form der Demokratie vertreten uns zumindest auf Landes- und Bundesebene Berufspolitiker, die wir bezahlen, damit sie ihre Zeit möglichst vollständig der Politik widmen können. Wir erwarten, dass sie sich auch in komplexe Sachverhalte gründlich einarbeiten und fundierte Entscheidungen treffen. Da Politiker für die Folgenihrer Arbeit verantwortlich sind, können wir sie nach Belieben kritisieren, wenn wir mit den Ergebnissen nicht zufrieden sind. Ein großer Nachteil der Professionalisierung von Politik ist allerdings, dass in der Regel nur relativ wenige Menschen aktiv an Entscheidungsprozessen teilhaben können. In der Vergangenheit mussten wir das akzeptieren, weil es einfach nicht möglich war, mehr als die kleine Gruppe der Mandatsträger in die politische Diskussion aktiv einzubinden.
    Die technische Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat unsere Kommunikation jedoch fundamental verändert. Im Prinzip können wir heute jederzeit mit jedem beliebigen anderen Menschen auf dieser Erde in Kontakt treten, ohne uns bewegen zu müssen. Im Prinzip können wir sogar auf jede verfügbare Information zugreifen, ohne uns bewegen zu müssen. In fast allen Lebensbereichen haben wir die Möglichkeit, uns selbständig zu informieren, freie Entscheidungen zu treffen und unsere Meinungen direkt zurückzumelden. Ob ich verreisen, ein Konto eröffnen oder eine Pizza bestellen will, ich habe überall die Möglichkeit, Berichte und Bewertungen zu lesen oder selbst zu hinterlassen. Für viele ist das inzwischen zur Gewohnheit, aber auch zum Anspruch geworden. Die Tatsache, dass wir bei den großen Fragen unseres gesellschaftlichen Miteinanders keinen direkten Einfluss haben, sondern nur alle vier Jahre eine geschlossene Liste gesetzter Politiker wählen dürfen, irritiert immer mehr Menschen. Die Anzahl derer, die sich vom politischen Geschehen vollständig abwenden und nicht einmal ihr Wahlrecht wahrnehmen, steigt beständig. Wenn ich heute gesellschaftlich etwas bewirkenmöchte, muss ich zum Beispiel in eine Partei gehen oder Mitarbeiter in einer Fraktion werden oder Teil einer Nichtregierungsorganisation werden, die Lobbyismus betreibt. In jedem Fall bin ich gezwungen, mein Leben weitgehend nach der Sache auszurichten, die ich verändern will. In den meisten Fällen möchte ich das aber gar nicht. Ich möchte einfach meine Meinung sagen beziehungsweise meine Stimme abgeben. Und ich möchte, dass viele andere Menschen das Gleiche tun. Ich will also eine niedrigschwellige Beteiligungsmöglichkeit, die es mir und vielen anderen erlaubt, gemeinsam aktiv zu sein, ohne gleich zu Aktivisten zu werden.
    Wenn wir darüber nachdenken, wie wir unsere persönliche politische Handlungsfreiheit erhöhen können, dann kommen wir zurück zu den Wurzeln der Demokratie. Wir sind zwar irgendwann zu viele geworden, um uns auf einem Platz zu versammeln, aber über das Internet ist es möglich, mit Millionen Menschen zu kommunizieren, ohne an einem gemeinsamen Ort zu sein. Wir brauchen keinen realen Marktplatz mehr, wir haben einen virtuellen. Es ist also an der Zeit, zum Gedanken der direkten Demokratie zurückzukehren. Rückbesinnung ist zurzeit ohnehin populär. Wenn ein Problem wie zum Beispiel die Eurokrise aufkommt, werden einfach alle Bürger befragt, was zu tun ist. Rettungsschirm ja oder nein. Schuldenschnitt ja oder nein. Wer andere Ideen hat, kann diese natürlich direkt einbringen. Am Ende kann sich niemand mehr über vermeintlich dumme oder korrupte Entscheidungen der Regierung beschweren, weil ja jeder die Möglichkeit hatte, es besser zu machen. Und all das nicht nurzur Eurokrise, sondern auch zur Frage nach dem Betreuungsgeld und einer Föderalismusreform und zur Bezahlung von Schichtarbeitern und der nächsten Gesundheitsreform. Jeder

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