Wir nennen es Politik
stimmt über jede Frage ab. Online. Jeden Tag. Spätestens hier wird deutlich, dass die Idee trotz Technik an Grenzen stößt. Zum einen sind die allermeisten Menschen gar nicht gut genug gebildet – oder sagen wir informiert –, um auch nur ungefähr abschätzen zu können, welche Konsequenzen ihre Entscheidungen in jedem Fachbereich haben. Dafür müsste jeder 15 Studiengänge absolvieren. Zum anderen gibt es in der Gesellschaft einfach zu viele Fragen, die gestellt werden. Niemand hat die Zeit, sich über alle Fragen Gedanken zu machen und abzustimmen. Wir könnten einfach nur dann abstimmen, wenn uns ein Thema besonders wichtig ist. Politische Teilhabe ist schließlich freiwillig. Dies würde jedoch eine neue Ungerechtigkeit erzeugen. Menschen haben im Leben noch andere Ziele, als Politik zu machen. Man möchte Hobbys nachgehen, einen interessanten Job ausüben, sich um die Familie kümmern. Es gibt Tausende Sachen, die schöner sind, als ständig partizipieren zu müssen. Es bleiben also wieder wenige Menschen, deren Hauptbeschäftigung die Politik ist. Genau wie in der repräsentativen Demokratie. Aber im Gegensatz zu dieser sind diese Menschen überhaupt nicht legitimiert, eben nicht gewählt. Sie haben einfach nur genug Zeit und Motivation. Die Machtelite würde durch die Zeitelite ersetzt.
Es reicht uns also nicht, das Ruder aus der Hand zu geben und alle vier Jahre ein Kreuzchen als kaum merkliche Datenmenge in die Politik zu schicken. Und wir wollennicht, dass die Macht auf diejenigen übergeht, die es sich leisten können, einen Großteil ihrer Zeit der Politik zu widmen. Nein, was wir wollen, ist eine ganz neue Form der Mitbestimmung. Eine Form, die die Vorteile von direkter und repräsentativer Demokratie miteinander vereint. Wir wollen die Freiheit, jederzeit selbst zu entscheiden, wie stark wir uns politisch beteiligen. Wir wollen sicherstellen, dass alle Menschen, die sich beteiligen möchten, das auch können. Um das zu erreichen, tun wir das, was die Bewohner des Internets ständig tun: Wir bauen Netze.
Liquid Democracy
Fangen wir mit einem fiktiven Beispiel an: Heute entscheidet der Landesverband der NRW-Piraten über die Förderung einer Kooperation mit osteuropäischen Schulen. Schüler sollen virtuell vernetzt werden, damit sie gemeinsam Englisch lernen. Ich finde den Antrag großartig und ich habe mich in unser LiquidFeedback eingeloggt, um meine Stimme abzugeben. Beim Rumklicken sehe ich, dass bald noch eine andere Entscheidung ansteht. Es geht um irgendeine abstrakte Bauentwicklungsfrage. In dem Bereich kenne ich mich gar nicht aus. Leider. Sebastian hat letztes Jahr ganz viel zu einem ähnlichen Thema gearbeitet. Ich weiß, dass er sich auskennt, und außerdem hat er ziemlich ähnliche politische Ansichten wie ich. Ich frage ihn aber gar nicht, wie ich seiner Meinung nach abstimmen soll. Ich übertrage ihm mit einem Klick meine Stimme. Ich könnte ihm meine Stimme einfach für dieseAbstimmung geben. Aber nein, da ich in dem Bereich wahrscheinlich ohnehin nicht selber abstimmen werde, delegiere ich ihm meine Stimme für den gesamten Bereich »Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und Verkehr«. Immer, wenn er jetzt in diesem Bereich abstimmt, hat er zwei Stimmen. Seine und meine. Ich kann alles nachprüfen, was er in meinem Namen tut. Wenn ich mit seinen Entscheidungen nicht zufrieden bin, nehme ich ihm meine Stimme einfach wieder weg. Jederzeit. Ich kann mich also zurücklehnen und habe einen Bereich weniger, um den ich mich kümmern muss. Später sehe ich zufällig, dass Sebastian in dieser Abstimmung anscheinend Herrn Gabler vertraut. Er hat seine Stimme auf ihn delegiert. Herr Gabler arbeitet im Liegenschaftsbetrieb NRW. Anscheinend vertritt er Sebastians Meinung. Wenn Sebastian auf Herrn Gabler delegiert hat, hat dieser drei Stimmen. Seine, die von Sebastian und meine. Das ist gut. Ich vertraue darauf, dass Sebastian meine Stimme sinnvoll einsetzt. Entweder indem er selbst abstimmt oder indem er die Stimme an jemanden weitergibt, den er für kompetent und vertrauenswürdig hält. Ich gehe mir einen Kaffee machen.
Liquide Demokratie ist eine Mischform aus repräsentativer und direkter Demokratie. Sie wird »flüssig« genannt, weil der Übergang zwischen beiden Formen völlig fließend ist. Sowohl in der Intensität der Beteiligung als auch in der Zeit, die man dafür aufwendet. Ich kann mich an einem Tag verhalten wie ein Berufspolitiker und nicht nur über alle Sachfragen selbst
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