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Wir nennen es Politik

Wir nennen es Politik

Titel: Wir nennen es Politik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Weisband
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unverbindlichen Abstimmungen empfinden viele Piraten als Zeitverschwendung, so dass die Zahl der aktiven LiquidFeedback-Benutzer zurzeit bei 15–20 % liegt. Die Konflikte um die Einführung von LiquidFeedback, um Nachvollziehbarkeit und Datenschutz wurden innerhalb der Partei sehr leidenschaftlich und emotional ausgetragen. Inzwischen werden sie nicht ganz ernst gemeint als Liquid-Kriege bezeichnet. Die Diskussion ist aber deshalb so wichtig, weil sie nur zu einem kleinen Teil technischer Natur ist. Wir streiten direkt oder indirekt um Macht und Verantwortung. Es geht darum, ob es einige schaffen, klassische hierarchische Machtstrukturen zu etablieren oder ob es uns gelingt, den Netzwerkgedanken tatsächlich zu leben. Im Moment stecken wir mitten in einem schmerzhaften, aber sehr wichtigen Selbstfindungsprozess, der durch den Erfolgsdruck der kommenden Bundestagswahl nicht in Ruhe ablaufen kann. Bei allem Streit ist es gut und beruhigend, dass es in unseren Reihen immer Menschen gibt, die beharrlich weiterdenken und nach neuen Lösungen suchen. Wir sind eben Erfinder – und wir tüfteln.

Transparenz
    Es ist Herbst in Berlin. Ich habe eine Einladung in eines dieser Cafés, in denen eigentlich die Politik gemacht wird. Eine Mitarbeiterin einer Bundestagsfraktion möchte mich kennenlernen. Ich will eine Vorstellung davon gewinnen, wie das Leben im Bundestag so aussieht, also sage ich zu. Wir treffen uns am späten Nachmittag, ich bin verschnupft und müde. Anna, die Fraktionsmitarbeiterin, ist eine relativ junge Frau mit blonden Haaren und einem bunten Halstuch. Sie duzt mich direkt. Wir sind immerhin so was wie Schwestern in einem männlich dominierten politischen Betrieb. Sie bestellt einen Kaffee und wir plaudern eine Weile. Dann leitet sie unauffällig über: »Ich möchte einfach verstehen, was es eigentlich ist, was die Piratenpartei will. Meine Partei beobachtet euch nur so auf der Ebene ›Was können wir tun, damit sie uns keine Wähler mehr klauen?‹ …«
    »… und dann richtet sie sich auch eine Facebook-Seite ein?«, unterbreche ich scherzend. Sie lacht.
    »Ja, genau, so was. Aber ich meine, ihr seid ja alles junge Leute. Mich interessiert, was das für eine Idee ist,die euch eigentlich antreibt. Ich glaube einfach, dass das mehr ist als damals bei den Grünen.«
    Ich erzähle ihr, dass die Piraten lediglich der Kristallisationspunkt einer großen gesellschaftlichen Veränderung sind, die gerade passiert. Dass sogar wir nicht im Detail wissen, wie diese Veränderung aussehen wird. Dass wir am Rande eines Wandels in jedem Bereich des Lebens stehen. Wir wissen immer mehr, werden immer vernetzter, immer individueller. Das Bild der Familie ändert sich, das Bild des Freundeskreises und der Freizeit. Es geht viel um Arbeit. Ich erzähle darüber, wie der technische Fortschritt uns von schwerer und monotoner Arbeit befreien soll. Die Wirtschaft fördert den technischen Fortschritt. Und damit strebt die Wirtschaft selbst an, uns von Arbeit zu befreien. Ich erzähle, dass wir uns von dem Gedanken lösen müssen, für jeden Menschen eine Beschäftigung zu finden, auch wenn sie unnötig ist. Dass Vollbeschäftigung kein Ziel mehr sein kann und dass an die Stelle der Beschäftigung Gestaltung treten muss. Damit bin ich beim bedingungslosen Grundeinkommen. Ich erzähle ihr von der neuen zentralen Rolle der Bildung in einer Welt, in der man seine Existenz größtenteils durch Verwaltung von Information bestreiten muss. Ich erzähle lang und fuchtle dabei mit den Armen. Sie schreibt hastig mit. Zu fast jedem meiner Sätze macht sie sich irgendeine Notiz, mit Pfeilen und Unterstreichungen.
    Wir sprechen darüber, wie man Netzwerke bauen kann in der Politik und von Plattformneutralität. Sie seufzt schwer und hört auf, sich Notizen zu machen. Das Thema beschäftigt sie. »Ich bin in meine Partei eingetreten, weilich im Wahlprogramm echt jeden Satz so unterschreiben könnte.« Ihre Augen glänzen aufrichtig: »Ich wollte was verändern. Nur manchmal denke ich, ich bin umgeben von mittelalten Männern mit Bauch, und ich finde mich da überhaupt nicht wieder. Man muss wirklich erst die Ochsentour machen. Vielleicht passt man sich da irgendwie an. Bei uns ist alles durchorganisiert. Die Pressereferenten haben jeden Morgen einen Pressespiegel vorliegen und dann werden die Reden von den Mitarbeitern passend dazu geschrieben.«
    »Wir haben so was gar nicht«, erwidere ich etwas zerstreut. Ich hatte kurz Wunschphantasien

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