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Wir nennen es Politik

Wir nennen es Politik

Titel: Wir nennen es Politik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Weisband
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Gegeninitiative. Sie heißt: »Kein zusätzliches Personal an Schulen. Lehrer besser ausbilden« und steht direkt neben meiner. Auch Bernard erhält Anregungen und setzt einige davon um. Nach einiger Zeit (meist einigen Wochen) werden die Texte eingefroren. Man kann sie dann nicht mehr verändern und alle können sich in Ruhe beide Initiativen in ihrer endgültigen Form ansehen. Erst einige Tage später beginnt die Abstimmung. Jetzt kann ich meiner eigenen Initiative zustimmen und die Gegeninitiative ablehnen. Ich kann auch beiden in einer bestimmten Reihenfolge zustimmen. Ich stimme dabei mit zweiundzwanzig Stimmen ab, weil einundzwanzig Leute direkt oder indirekt im Bereich Bildung auf mich delegiert haben. Jedes Parteimitglied kann einsehen, welche Personen dassind, die Delegationsketten sind nachvollziehbar. Mein Abstimmungsverhalten auch. Am Ende steht nicht nur der Text der beliebtesten Initiative, sondern dieser ist auch verbessert durch die beliebtesten Anregungen. Dadurch, dass es keine freien Kommentare gibt, verstricken wir uns nicht so leicht in belanglose Streitereien. Das Anregungssystem motiviert dazu, konstruktiv zu arbeiten.
    Was passiert mit meinem Antrag, wenn über ihn in LiquidFeedback erfolgreich abgestimmt wurde? Erst mal gar nichts. Im System können derzeit keine bindenden Beschlüsse gefasst werden. Die Abstimmungen sind lediglich unverbindliche Meinungsbilder. Durch das Feedback und die Anregungen erhöht sich allerdings die Qualität der Texte. Die besten Anträge können beim nächsten Parteitag zur Abstimmung gestellt werden. Der Parteitag kann dann verbindlich eine Entscheidung treffen und zum Beispiel die von mir geforderte Passage ins Wahlprogramm einfügen. Der Parteitag wird also unterstützt, aber liquide Demokratie ist das noch nicht.
    Seit die Piratenpartei in verschiedenen Landesparlamenten vertreten ist, können wir mit der Anbindung an die echte Politik experimentieren. Das Modell, das im Moment in Berlin betrieben wird, ist eine Ankopplung der Parteimitglieder über die Abgeordneten. Im Berliner Abgeordnetenhaus sitzen fünfzehn Piraten. Sie haben sich vorgenommen, eine Hybridform aus liquider Demokratie und dem bestehenden parlamentarischen System auszuprobieren. Die Mitglieder können in zwei Richtungen eingebunden werden. Jeder kann eigene Initiativen an die Fraktion leiten (von unten nach oben, sozusagen) und dieFraktion kann im Parlament vorhandene Vorschläge der Partei zur Diskussion vorlegen (von oben nach unten). Für Letzteres beschäftigt die Fraktion eine Mitarbeiterin, die alle möglichen Anträge – also die der Piraten, aber auch die der anderen Fraktionen – ins LiquidFeedback stellt. Dort können alle Berliner Piraten darüber abstimmen. Meist übernehmen die Abgeordneten bei der parlamentarischen Abstimmung das Ergebnis aus LiquidFeedback. Damit können sie geschlossen auftreten, ohne dass die Abgeordneten dem klassischen Fraktionszwang ausgesetzt sind und binden gleichzeitig noch die Parteibasis ein. Weil sie laut Verfassung bei Entscheidungen nur ihrem Gewissen unterworfen sind, können Abgeordnete natürlich auch abweichend abstimmen. Das begründen sie dann ausführlich. So kann auch die Frage nach der Verantwortlichkeit beantwortet werden. Mittlerweile wurde das Konzept dahingehend modifiziert, dass nicht mehr jeder Antrag von Fraktionsseite ins System eingestellt wird, sondern nur noch die, bei denen eines der Fraktionsmitglieder ein Anliegen hat. Außerdem kann jederzeit jedes Mitglied der Piratenpartei eine Anregung zu einem beliebigen Antrag einstellen, zu dem es Änderungsbedarf hat.
    »Wir haben festgestellt, dass LiquidFeedback nur dann wirklich Sinn ergibt, wenn man tatsächlich ein Anliegen hat«, erklärte mir Simon Weiß nach einem Jahr als Abgeordneter. Die Möglichkeit, Entscheidungen mit der Parteibasis abzustimmen, ist nicht nur demokratisch. Es ist auch eine Arbeitserleichterung. Die Abgeordneten machen noch immer einen Mammutteil der Arbeit und tragen die gesamte Verantwortung für jede Entscheidung. Doch dieWahrscheinlichkeit, dass ihnen grobe Fehler unterlaufen, sinkt bei Anträgen, die LiquidFeedback durchlaufen haben. Es gibt einfach mehr Menschen, die diese Anträge überprüfen und verbessern. Wie jede neue Beteiligungsmöglichkeit braucht auch diese erst Zeit, um Fahrt aufzunehmen. Die Abgeordneten wünschen sich von den Parteimitgliedern mehr Beteiligung an ihrer Arbeit. Schon dieser Wunsch zeigt, dass das System durchaus

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