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Wir nennen es Politik

Wir nennen es Politik

Titel: Wir nennen es Politik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Weisband
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den gesamten Bundeshaushalt lesen? Vier Stunden Ausschusssitzung anschauen? Bin ich bescheuert? Was ich brauche, sind aufbereitete Informationen, die in einen Kontext gesetzt sind. Ich brauche Zusammenfassungen, ich brauche gefilterte Infos, durch die ich das Interessanteste mitbekomme. Aber wer filtert? Parlamentarier und Verwaltung argumentieren sehr gern mit der Informationsflut und bestehen darauf, ihre ausgehenden Informationen selbst vorzufiltern. Als Service, versteht sich. Das Problem ist, dass sie damit selbst bestimmen, welche Informationen geheim bleiben. Das macht sie zu Torwächtern, die sie nicht sein sollten. Den Filter müssen mehrere Stellen übernehmen können, die voneinander unabhängig sind. Prädestiniert für diese Aufgabe sind Journalisten, die Sachkenntnis haben und Rohdaten auf Interessantes durchsuchen können. Im Prinzip ist es genau das, was passiert, wenn ein Journalist von einer Veranstaltung berichtet.
    Bestenfalls gibt es zwei Ebenen von Transparenz. Die erste Ebene ist eine wilde, unsortierte Ebene. Hier sind alle verfügbaren Daten zu finden. Das sind Video- und Audioaufzeichnungen, Haushalte, Verträge, alles im Original (mit geschwärzten personenbezogenen Daten). Wichtig auf dieser Ebene ist, dass sie irgendwie durchsuchbar sind. Wenn ich mich zum Beispiel für die Romanfigur Pierre Besuchow interessiere und mehr über ihn erfahrenwill, und jemand legt mir das Buch »Krieg und Frieden« auf den Tisch, kann ich damit fast nichts anfangen. Bekomme ich den Roman aber digital, kann ich nach Pierre suchen und alle Stellen lesen, an denen er vorkommt. Ich kann eine Zusammenfassung schreiben, die dann für jeden zur Verfügung steht, den der Charakter auch interessiert. Es sei denn, derjenige will meine Vorarbeit hinterfragen. Dann kann derjenige den Roman einfach selbst durchsuchen. Genauso funktioniert das mit Haushaltszahlen, mit Vertragsbedingungen und so ziemlich allem.
    Die zweite Ebene der Transparenz besteht aus diesen Zusammenfassungen. Das sind die Nachrichten, es sind Artikel, es sind auch Broschüren und Seiten, die Fraktionen und Parteien selbst herausgeben. Für die zweite Ebene der Transparenz ist es nicht mehr so wichtig, dass lückenlos alle Informationen da sind. Dafür ist die erste Ebene da. Auf der sortierten Ebene entsteht Transparenz dadurch, dass Sachverhalte nachvollziehbar sind, je besser sie in Kontext eingebettet und je einfacher sie zu finden sind. Politische Information muss den Menschen finden, nicht umgekehrt.
    Auf der ersten Ebene sind alle vorhandenen Daten:
öffentlich
auffindbar
durchsuchbar
zeitnah vorhanden
kostenlos
frei kopierbar
frei verwendbar
    Auf der zweiten Ebene sind Sachverhalte:
umfassend aufgearbeitet
ohne verfälschende Auslassungen
übersichtlich
sehr leicht auffindbar
in Kontext gebettet
mit Verweisen auf die erste Ebene ausgestattet
    Eine weitere Frage, die bei der Offenlegung von politischer Arbeit gestellt werden muss, ist die nach dem Zeitpunkt. Um Einfluss auf Geschehnisse nehmen zu können und Fehler früh zu vermeiden, muss Information möglichst früh geteilt werden. Im Optimalfall direkt, wenn sie entsteht. Nehmen wir zum Beispiel das Bauprojekt Stuttgart 21, das zu großen Protesten in der Bevölkerung geführt hat. Der Protest gegen den Umbau eines Bahnhofs stieß deutschlandweit eine Diskussion über Bürgerbeteiligung an. Im Kern stand unter anderem die Kritik, dass das Vorhaben viel zu spät erst breit kommuniziert wurde. Zwar war das Projekt seit längerem bekannt, aber nicht medienwirksam verbreitet und erklärt worden. Das führte 2010 zu großen Demonstrationen und schließlich zu einer Volksabstimmung über das Projekt. Hier war es nicht gelungen, so mit den Bürgern zu kommunizieren, dass sie gleich informiert gewesen wären und ihre Kritik hätten einbringen können. Das hätte dem Land Verlust von Vertrauen, Zeit und Geld erspart.
    Wenn man etwas vorhat und es kommuniziert, ehe Tatsachen geschaffen werden, die nur schwer wieder zu ändern sind, dann ist das prospektive, also vorausschauende,Transparenz. Ihr entgegen steht die retrospektive Transparenz, die über Sachverhalte aufklärt, die schon geschehen sind. Das klingt erst mal schlechter, kann aber auch sehr nützlich sein. Nehmen wir mal an, eine Fraktion der Piratenpartei möchte in der Kommunalpolitik die Schließung einer Schule verhindern. Die Fraktion der Grünen sagt, dass sie sich ebenfalls gegen die Schließung dieser Schule einsetzen werde, aber nur

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