Wir nennen es Politik
Das ist, was wir im Fernsehen sehen. Daran orientieren sich unsere Erwartungen. Wird also doch mal ein Fehler gemacht, ist der Sturm der Entrüstung umso heftiger. »Wie konnte dieser Idiot das so versemmeln? Alle seine Vorgänger haben es richtig gemacht!« Nein, haben sie nicht. Sie haben es nur besser kaschiert.
Ich kann gar nicht sagen, wie oft ich mit dem Satz konfrontiert wurde: »Das darfst du nicht machen, damit bietest du Angriffsfläche.« Nicht von irgendwelchen Etablierten. Von meinen eigenen Parteifreunden. Von meinen engen Freunden. Von meinem Verlobten. Aber ich wollte nicht »keine Angriffsfläche bieten«. Ich wollte nicht im Krieg sein. Ich wollte Mensch sein und mitgestalten. Also setzte ich mich mit der größtmöglichen Naivität, die ich aufbringen konnte, darüber hinweg.
Aber zum offenen Politiker gehörte für mich nie die Preisgabe meines gesamten Privatlebens. So ist das Konzept oft missverstanden worden, und mit dem Begriff der Transparenz gleichgesetzt worden. Aber darum geht es nicht und das verlange ich von niemandem. Es geht eher darum,nicht jede Aussage komplett seiner politischen Rolle unterzuordnen. Man kann den offenen Politiker leicht mimen, indem man sich beim Gassigehen mit dem Hund von einem Kamerateam begleiten lässt. Der echte offene Politiker unterscheidet sich aber durch drei Kriterien, die zufälligerweise alle werbewirksam mit A beginnen:
Authentizität: Rede, wie du es für richtig hältst. Sei respektvoll, aber verstecke deine Emotionen nicht. Wenn mal ein Fluch rausrutscht – nicht schlimm. Ein Mensch ist ein Mensch und sollte nicht vorgeben, etwas anderes zu sein.
Aufklärung: Es gibt Informationen, die nicht direkt inhaltlich politisch sind, aber trotzdem Relevanz für die politische Wirklichkeit haben. Zum Beispiel gehört dazu, wie der Alltag eines Parlamentariers aussieht. Es ist gut und wichtig zu sagen, wenn man viel zu viele Drucksachen hat, die man einfach nicht alle sorgfältig lesen kann. Oder sich darüber zu ärgern, dass sie so unpraktisch aufbereitet sind. Die Probleme der repräsentativen Institutionen gehen alle etwas an. Twitter als Begleiter in der Tasche kann hier eine Menge reißen.
Ansprechbarkeit: Der offene Politiker kommuniziert in beide Richtungen, er hört also auch zu. Damit meine ich jetzt nicht, dass er alle seine Anfragen unbedingt selbst lesen und beantworten muss. Die Praxis zeigt, dass das nicht möglich ist. Wir entwickeln aber ständig interessante Systeme, wie Many-to-one-Kommunikation funktionieren kann. Damit können wir erreichen, dass andere Menschen in der Lage sind, häufig auftauchendeKritik hörbar zu formulieren. Der Politiker muss sie bloß auch annehmen.
Es ist verdammt anstrengend, sich so zu verhalten. Das sage ich inzwischen aus Erfahrung. Ich habe im Mai 2011 mit einer Maximalforderung an mich selbst begonnen und musste sie jetzt auf ein praktisches Maß herunterbrechen. Das nennt man dann wohl Erkenntnisgewinn. Ich wurde oft gefragt, ob das Experiment meiner Meinung nach gestorben ist. Es ist nicht gestorben. Es ist erwachsen geworden, lebt aber.
Weil meine politische Karriere mit einem riesigen Haufen Überforderung begann und mit einer Rolle, die ich so nicht ausfüllen konnte, wollte ich von Anfang an Mechanismen etablieren, die mich schützen. Der erste war, die Erwartungen an mich nicht eskalieren zu lassen. Klarzumachen, dass ich eine junge Studentin bin, die das mit der Politik vorher nie gemacht hatte. Dass ich gern arbeite, aber auch Hilfe benötigen werde. Ich stellte mich also auf hundertprozentige Kommunikation ein. Jeder konnte mich jederzeit erreichen.
Zum ersten Mal ernst wurde es nur wenige Tage nach der Wahl, als wegen eines Problems mit LiquidFeedback mitten in der Nacht mein Handy klingelte und ich gemeinsam mit einem anderen Bundesvorstand schnelle Entscheidungen treffen musste, die erstmals Konsequenzen haben würden. Aber ich publizierte selber auch jeden Gedankenansatz, den ich hatte, um sofort Feedback darauf zu bekommen. Das klingt stressig, aber erstaunlicherweise ging es ein halbes Jahr lang echt gut. Vor allem ändertesich der Ton der Kritik. Wo andere Bundesvorstände sehr hart und ungerecht angegangen wurden, sprach man mit mir zumeist recht sachlich, auch wenn ich offenkundig Mist gebaut hatte. Offenbar hatten meine Kritiker das Gefühl, von mir gehört zu werden, auch ohne mich anbrüllen zu müssen.
Ich versuchte, auch in den Reihen der Vorstände Werbung für das Vorgehen zu
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