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Wir nennen es Politik

Wir nennen es Politik

Titel: Wir nennen es Politik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Weisband
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und für die Partei sprechen kann.
    Nach diesem Auftritt ging es rund mit diversen Interviewanfragen, Porträts, Einladungen, Podiumsdiskussionen etc. Spätestens seit dem letzten Bundesparteitag kommen immer häufiger Artikel mit mir, in denen hochtrabende Worte wie »neuer Star«, »Hoffnung«, »Lichtgestalt« oder »die schöne Piratin« verwendet werden.

    Eigentlich könnte man sich ja mal freuen. Erstens, welches kleine Mädchen hat nicht davon geträumt? Zweitens, wenn ich schon so viel interviewt und gefragt werde, dann kann ich ja ganz viele Ideen der Piraten erzählen, dann kann ich endlich Deutschland von meinen und unseren politischen Positionen überzeugen. Ich kann endlich vermitteln, dass Investitionen in Bildung für die Wirtschaft unumgänglich sind, auch wenn sie sich erst nach mehr als einer Legislaturperiode lohnen. Ich kann endlich sagen, dass transparent und demokratisch entwickelte Entscheidungen zwar langsamer fallen, dafür aber auch viel nachhaltiger sind. Ich kann endlich erklären, was liquide Demokratie ist und warum uns das Internet so viele neue Chancen zu einer besseren Gesellschaft bietet. Aber denkste.Seien wir ehrlich. Meine Medienpräsenz besteht zu 80 % aus Fotos, Kommentaren über meine Frisur, meine Kleidung, meine Hobbys, meine Art. Hach, wie hübsch und hach, wie erfrischend, heißt es da immer. Ja, ich bin für die Öffentlichkeit gerade eine angenehme Gestalt – jung, engagiert, weiblich. Aber wofür ich engagiert bin, warum ich in meinem Alter eine unentgeltliche 60-Stunden-Woche arbeite, was für eine Idee es ist, hinter der wir stehen, danach fragt man bestenfalls oberflächlich.

    Ach ja, nach einer Sache werde ich natürlich schon immer gefragt: Warum sind in der Piratenpartei eigentlich so wenig Frauen?
    Jeder fragt mich das. In jedem Interview. Nur mich, nicht meine männlichen Kollegen.
    Warum in der Piratenpartei so wenige Frauen sind? Weil in der Politik so wenige Frauen sind! Und noch weniger in Ämtern. Warum? Weil die Zeitungen über sie nur berichten, was sie anhaben, oder Heldenstorys mit ihnen machen, wie sie sich als Frau durchschlagen. Weil sie erst auf politischer Linie total versagen müssen, ehe man anfängt, über das Inhaltliche zu sprechen. Weil sie unweiblich sein müssen, weil man sonst über ihre Frisuren spricht. Deshalb!
    Ich habe nicht an Sexismus geglaubt. Aber das hier ist er.

    Natürlich ist das nicht nur ein Sexismusproblem. Nein, es ist ein Auflagenproblem. Medien sind Konsumgüterund befinden sich im Wettbewerb. Was sich am besten verkauft, wird gedruckt oder gesendet. Ja, ja, das verstehe ich, und deshalb mache ich euch nicht mal persönlich einen Vorwurf, liebe Journalisten. Aber war es wirklich das, warum ihr Journalisten werden wolltet? Damals? Um bei einer neu aufkommenden politischen Bewegung, die überraschend viel Zulauf erfährt, über den Lippenstift der politischen Geschäftsführerin zu schreiben? Und nein, ehe hilfreiche Hinweise kommen: Ich werde mich nicht unauffälliger kleiden oder mir die Haare kurz schneiden oder mich nicht mehr schminken. Mich zu verbiegen, oder als Mann zu verkleiden, kann nicht die Antwort sein.

    Wenn ich schon so im Vordergrund stehe, hätte ich mir auch gewünscht, tatsächlich ein paar Worte sagen zu können. Nein, ich möchte keine Parteiwerbung machen, darum geht es mir nicht. Es geht darum, zu erklären, was im Moment möglicherweise falsch läuft. Ideen zu geben, was wir besser machen könnten. Chancen zu zeigen. Und es ist mir egal, wenn die Presse das dann kritisch kommentiert. Mir ist ein guter kritischer Artikel viel lieber als zehn himmelhochlobende Artikel darüber, »wie schön diese Piratin ist«. Im Moment fühle ich mich wie eine Stumme, während alles über mich spricht. Mich gruselt der Gedanke am meisten, dass es natürlich nicht nur mir so geht, sondern vermutlich jeder medienwirksamen Gestalt. Das macht man sich nicht klar. Und diese Entwicklung ist nicht erfreulich. Ich wünschte, die Presse hätte die Möglichkeit, sichein bisschen aus diesem Wettbewerbsding zu lösen, und würde sich auf ihre eigentliche Aufgabe besinnen – die Menschen aufzuklären, den Menschen Wissen zu bringen.
    Es ist bemerkenswert, wie viel Beachtung dieser ältere Artikel fand. Ich bin noch immer dankbar für jeden Leser und jeden Journalisten, der ihn sich zu Herzen genommen und verbreitet hat. Nach diesem Artikel trat um mich herum eine gravierende Veränderung ein. Ich wurde viel zu politischen

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