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Wir nennen es Politik

Wir nennen es Politik

Titel: Wir nennen es Politik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Weisband
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Inhalten gefragt, ich wurde als die politische Geschäftsführerin wahrgenommen, die ich war. Das machte meinen Job natürlich anspruchsvoller, denn ich musste mich noch besser vorbereiten. Ich hatte kein Büro, keine Referenten. Trotzdem fühlte es sich gut an, ernst genommen zu werden.
    Der Feminismus hat viel bewirkt, doch es bleibt noch immer eine Spur Ungerechtigkeit in der Gesellschaft zurück. Ich denke nicht, dass man darüber den Humor oder die Selbstironie verlieren darf. Ich bin nicht auf einen verbitterten Kreuzzug gegangen. Doch bei dem einen oder anderen Frauenwitz kann man schon mal anmerken, dass man nicht bloß über das Problem lacht, sondern es auch nährt.
    Der Feminismus brach sturmflutartig in meine Partei hinein und änderte das Denken vieler, die darin aktiv waren. Nicht zuletzt mein Denken. Während ich mich am Anfang meiner Tätigkeit neutral zu Frauenquoten in der Wirtschaft und ablehnend gegen Frauenquoten in Parteienverhielt, ist diese Haltung bei mir mit der Zeit ins Schwimmen gekommen.
    Es sind nicht nur Frauen, die ich in Vorständen und in der Politik vermisse. Es sind insgesamt Personen mit Eigenschaften, die klassischerweise mit weiblicher Erziehung assoziiert werden. Ich sprach von Plattformneutralität. Angewendet auf die Frauenfrage bedeutet Plattformneutralität, dass bei der Möglichkeit und der Bewertung von Handlungen das Geschlecht keine Rolle spielt. Dieses Ideal ist zurzeit leider eine Utopie und es wird auch noch lange Zeit Utopie bleiben. Aber wie mit jeder Utopie müssen wir versuchen, uns im Handeln an ihr zu orientieren. Was wir brauchen, sind im Moment viele, viele Frauen, die in den Vorständen, in der Öffentlichkeit stehen, zeigen, was sie können, und so auf verschiedene Weise Vorbilder für andere liefern.
Das Scheißegal-Gen
    Ich starre auf einen blinkenden Cursor. Es ist früher Nachmittag. Ich habe eine Kleinigkeit gegessen und mich vor den Computer gesetzt. Ich muss ein Buch schreiben. Aber irgendwie möchte ich das nicht. Was ist passiert?
    Ich habe mir gestern die Haare rot gefärbt. Aus einer Laune heraus. Und weil alle meine Freunde und meine Familie fragten, wie es aussieht, habe ich ein Foto davon auf Facebook gestellt. Das darf man doch, dachte ich. Wie sonst soll ich mich unkompliziert mit Freunden und Verwandten in Israel, Russland, Ukraine, USA , Mexiko austauschen?Ich stellte also einfach ein neutrales Webcam-Foto ein. Und dann die Kommentare.
    »Mal wieder muss Marina sich profilieren.«
    »Russische Maskenjüdin sucht sich einen Ehemann. Wollte heute schon wer kotzen?«
    »Also eine Nacht mit der, dann überlege ich mir meine Wahlentscheidung noch einmal … Ich steh halt auf Frischfleisch.«
    »Eure Witzpartei ist dem Untergang geweiht. Euch können echt nur Schwachmaten wählen.«
    Mir zieht sich der Magen zusammen. Nicht, weil jeder einzelne Kommentar so verletzend wäre. Es ist eher das Gesamtbild. Vor kurzem habe ich mich mit einem, wie ich finde, ausgewogenen und nachdenklichen Beitrag zur Beschneidungsdebatte nach außen gewagt und darauf liebenswürdige E-Mails bekommen, die mir anboten, eine Beschneidung an mir mit einem rostigen Messer durchführen zu lassen. Da hatte ich ja mit solchen Reaktionen gerechnet, was schon traurig genug ist. Aber das war jetzt ein harmloses Foto. In letzter Zeit scheinen die Menschen total am Rad zu drehen. Ob im Internet, im Zug oder am Infostand. Für jeden Gedanken, den ich äußere, wate ich durch einen zähen Sumpf aus Beschimpfungen und Unterstellungen. Kein Tweet, egal in welche Richtung, bleibt ungestraft. Twitter ist wie ein Tagebuch, das dich anmault, wenn irgendjemandem in der Welt nicht passt, was du hineingeschrieben hast.
    Stolz auf sich selbst wird als Arroganz ausgelegt, Bescheidenheit als falsche Bescheidenheit. Unpolitische Kommentare werden abgestraft, weil das ja »nun wirklichkeinen interessiert«, politische Kommentare sind »hohle Phrasen«. Bei jeder Mehrdeutigkeit nehmen Leser grundsätzlich die schlechteste Variante an. Das ist das Problem. Man geht vom Schlechtesten im Menschen aus.
    Und jetzt schreibe ich dieses Buch. Ein Buch darüber, wie Menschen in der Lage sind, kluge Entscheidungen zu treffen. Wie man offen sein sollte. Wie man Schwächen zeigen sollte. Wie man Menschen vertrauen sollte. Denselben Menschen, die ihre Messer wetzen, weil ich überhaupt ein Buch schreibe. Weil es ihnen nicht genug ist, dass ich im Vertrag mit dem Verlag das Recht auf Privatkopie erkämpft

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