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Wir nennen es Politik

Wir nennen es Politik

Titel: Wir nennen es Politik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Weisband
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ein Symptom dafür, was sonst noch passiert. Unechte und übervorsichtige Sprache bedeutet: Ich fühle mich beobachtet und ich möchte nicht anecken. Bei vielen Politikern entwickelt sich eine Idee davon, welche Worte und welches Auftreten in Ordnung sind und welches nicht. Kleine Veränderungen schleichen sich ein. Man trägt jetzt lieber mal nicht die rosa Haarspange, denn die wirkt kindlich, und da ich ja dreißig Jahre jünger bin als die anderen Talkshowgäste, muss ich mir einen Dutt machen, um ernster genommen zu werden. All diese Veränderungen stehen gegen die Art von offenem und ehrlichem Diskurs, den ich gern hätte, und sie gehen zurück auf die Anpassung an eine Rolle. Die Rolle des Politikers. Der leichteste Weg, Klischees zu vermeiden, liegt darin, die Rolle einfach nicht zu spielen. Zumindestnicht auf strategische Weise, also als Mittel zum Zweck, um bestimmte Wirkungen oder Ziele zu erreichen. Ob es in Anbetracht verschiedener Rollen, die wir gesellschaftlich spielen, so etwas wie hundertprozentige Authentizität gibt, ist hier nebensächlich. Wichtig ist, aus welcher Motivation heraus ein bestimmtes Verhalten an den Tag gelegt wird.
    Es geht also darum, das Konzept von politischer Aktivität umzudenken. Die Kernthese dieser Idee ist:
    Ich bin ein Mensch, der zu dieser Gesellschaft gehört und diese Gesellschaft beeinflussen will. Ich gehe dafür in eine Partei, wo ich einen Teil meiner Zeit mit politischer Arbeit verbringe. Doch ich verheimliche dabei nicht den Menschen, der ich die ganze Zeit über bin.
    Die Idee entstand total schwammig und spontan. Ich wollte einfach im Fernsehen weniger Stereotypen und mehr Menschen mit seltsamen Marotten sehen, die vielleicht sogar widersprüchliche Signale senden oder einfach mal vor sich hinsingen. Aus dieser etwas kindlichen Idee wurde mehr.
    Es war zur Zeit der Affäre um Bundespräsident Wulff. In der Debatte ging es zuerst wochenlang um einen zu günstigen Kredit, den er bekommen hatte. Doch sehr schnell verschob sich der Fokus. Es ging mehr und mehr um seinen Umgang damit, um die Geständnisse, die er widerwillig und scheibchenweise machte. Es war der Winter der Salami. Die Ehrlichkeit und Vertrauenswürdigkeit der Politik wurde insgesamt zur Debatte gestellt. Immerhinhatte das Staatsoberhaupt selbst sie in Misskredit gebracht. Und die Debatte war wichtig. Denn letztlich ging es auch um sinkende Wahlbeteiligung, Frustration über das System und die potenzielle Bedrohung durch populistische Kräfte. Es ist wichtig, dass Menschen an die glauben, die sie repräsentieren sollen. Denn sonst wird Politik in einer Scheinrealität gemacht, während die eigentliche Realität vor sich hindümpelt. Hinzu kommt noch, dass es generell gut für den Betrieb ist, Fehler früh zu erkennen und zu beheben. Es war also ein sehr wichtiges Thema.
    Aber warum sind Politiker eigentlich so schlecht darin, Fehler einzugestehen? Das ist relativ einfach. Politiker, das sind die Menschen, auf die wir uns verlassen. Die können das. Die sitzen oben in der Schaltzentrale und werden dafür bezahlt, dass sie die Verantwortung tragen. Wenn sie also einen Fehler machen, werden wir wütend. Richtig wütend. Dann stürmen wir und schreiben böse Briefe, E-Mails und Zeitungsartikel, dann machen wir uns über sie lustig und setzen sie in unschmeichelhaften Posen auf die Cover unserer Magazine.
    Das alles muss, wohlgemerkt, nicht unbedingt falsch sein. Wir schreien laut, weil wir das Gefühl haben, nicht gehört zu werden. Denn die sitzen – so empfinden wir es – irgendwo in dieser Zauberwelt »da oben« und sind vor uns »hier unten« ohnehin geschützt. Das Problem ist natürlich, dass sie das durchaus nicht sind. Sie sind Menschen, die Gefühle haben und die verletzt sein können. Dann reagieren sie oft wütend oder unbeherrscht oder mit einem unüberlegten Vorstoß. Doch wir sehen davon wenig. Denn irgendwann hat der Politiker so viel Angst vor der Bestrafungund öffentlicher Bloßstellung, dass er nie, nie, nie zugeben würde, ein normaler Mensch zu sein, der Fehler macht. Nein, ich bin ruhig, meine Krawatte sitzt, meine Nase ist gepudert, ich rede sachlich. Das Jackett ist extra noch mal gebügelt worden. Gott bewahre, man hätte eine Falte im Jackett, während man doch das Volk vertritt. Der Politiker versucht, keine Angriffsfläche zu bieten. Und damit wird er der perfekte Mensch. Ihr kompetenter Berater. Er strahlt morgens schon, er kennt Zahlen auswendig, er macht keine Fehler.

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