Wir nennen es Politik
– nicht aus Überzeugung, sondern aus bloßer Angst? Weil sie ohne das Scheißegal-Gen geboren wurden? Wie viele fähige Politiker werden irgendwo auf dem Weg aufgerieben? Und was ist eigentlich mit denen, die bleiben? Obwohl man selten darüber spricht, gilt Alkoholismus als Politikerkrankheit.
Wir haben als Gesellschaft jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder wir akzeptieren das, zucken bedauernd mit den Schultern und wenden uns interessanteren Themen zu – oder wir führen eine Debatte darüber, was es heißt, wenn zentrale Entscheidungsträger einem auf Dauer zerstörerischen Druck ausgesetzt sind, den nur jene aushalten, an denen genug abperlt. Denn üblicherweise perlt ja nicht nur Schlechtes ab, sondern auch Ideen von außen, Initiativen und Bedürfnisse.
Die Frage ist, wie wir mehr Menschen ermöglichen, aktiv an der Politik teilzuhaben, die nicht über die für den parlamentarischen Betrieb erforderlichen Charaktereigenschaften verfügen, anderweitige Verpflichtungen haben oder sich schlicht nicht trauen.
Da die Strukturen innerhalb der Parlamente wehrhaft gegen Veränderungen sind, sollten wir zunächst über außerparlamentarische,aber natürlich demokratisch und rechtsstaatlich legitimierte Partizipation nachdenken. Wir wollen die Schwelle für Beteiligung senken und jedem eine Chance geben. Das Parlament ist im Moment sinnvoll und notwendig. Die Männer und Frauen, die dort sind, verdienen meine tiefe Anerkennung und Achtung vor ihrer Leistung, auch wenn ich politisch nicht mit allen einverstanden bin. Sie halten viel aus. Diese Parlamentarier können gleichzeitig eine Brücke für eine neue Art von Politikern bilden. Und hier sind wir wieder bei liquider Demokratie.
Wie ich im Kapitel über dynamische Systeme beschrieben habe, sollten wir Systeme wie LiquidFeedback an Abgeordnete anbinden. Das Votum des Systems sollte nicht zwangsläufig verpflichtend, aber ausschlaggebend für die Abgeordneten sein. Im Liquid-System können wiederum Menschen Politik machen, die inhaltlich fit sind, sich aber aus anderen Gründen gegen den Weg des Berufspolitikers entschieden haben. Weil sie einem anderen Beruf nachgehen und diesen nicht riskieren möchten. Oder weil sie Wert auf Zeit mit ihrer Familie legen. Oder weil sie sich nicht bereit fühlen für Unwegsamkeiten der Arbeit im Parlament.
Wenn sie inhaltlich gute Politik machen, sammeln sie in einer liquiden Demokratie viele Stimmen und haben großen – aber transparenten – Einfluss auf das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten. Sie können also Politiker sein, ohne ihr gesamtes Leben darauf umstellen zu müssen. Ich könnte zum Beispiel meine Stimme im Bereich der Bildungspolitik an einen politisch engagierten Lehrerdelegieren, der mit mehreren hundert Stimmen entsprechenden Einfluss auf seine Abgeordneten ausüben könnte. Obwohl die Abgeordneten sich im Zweifelsfall anders entscheiden könnten, werden sie im Normalfall der Mehrheit folgen. Damit hat jener Lehrer, solange er gute Arbeit macht, einen gewissen Einfluss, ohne seinen Beruf aufgeben zu müssen. Damit senken wir die Schwelle zur Gestaltung und verwischen weiter die Grenze zwischen aktiven und passiven Politikern. Ich finde es wichtig, dass fähige Menschen nicht durch unpolitische Umstände von Politik abgehalten werden. Die Lösung über die Anbindung durch liquide Demokratie ist für mich eine Art Zwischenstufe. In der Ferne habe ich die Vorstellung einer Gesellschaft, in der es kein »Scheißegal-Gen« braucht, um Politik zu machen. In der der Einfluss auf eine Gesellschaft nicht von Herkunft, Geschlecht oder bloßer Zähigkeit abhängt.
Um diese Gesellschaft zu erreichen, müssen wir aber vornehmlich nicht bei den aktiven Politikern oder im demokratischen System etwas verändern. Sondern im Denken der gesamten Bevölkerung. Einer Bevölkerung, die im Moment hohe, aber unerfüllbare Ansprüche hat. Einer Bevölkerung, die selbst stellenweise wenig Rücksicht nimmt. Einer Bevölkerung, die sich den perfekten Politiker wünscht – und ihn eben damit immer weiter in die Ferne rücken lässt.
Passive Politiker
Service wird in Deutschland ganz groß geschrieben. Der Kunde ist König. Wenn ich in ein Restaurant gehe und in meiner Suppe schwimmt ein Haar, muss der Kellner schon ganz schön schwitzen. Ich weise ihn, wenn ich höflich bin, freundlich darauf hin und er kümmert sich darum, dass ich schnell einen neuen Teller frische Suppe bekomme. Service wünschen sich schon Kinder von ihren
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