Wir sehen uns in Paris
und setzt sich neben ihn auf den Gang. Der Junge nimmt keine Notiz von ihr, scheint sie nicht zu bemerken. Sein Gesicht verschmilzt mit den Schatten der Dämmerung. Außerdem ist er in ein japanisches Comicheft versunken. Auf Englisch – beeindruckend. Mangas hat Isabella noch nie etwas abgewinnen können, doch weil ihr langsam langweilig wird, beugt sie sich vor und versucht mitzulesen.
»Nächster Halt: …« Der Zug bremst und Isabella, die ohnehin ziemlich wackelig dahockt, fliegt vornüber auf das Comicheft.
»Ey!«, schnauzt der Junge. »Pass doch auf.«
Er schiebt sie von sich weg, und in diesem Moment erkennt Isabella, wer direkt vor ihrer Nase gesessen und in aller Ruhe seinen Comic gelesen hat. Von ihrem Geld gekauft. Er . Er ist das!
In seinen Augen erkennt sie, dass auch er jetzt weiß, wer sie ist. In Sekundenbruchteilen verändert sich sein Blick. Er wechselt von überrascht auf gleichgültig, hat die Situation schneller im Griff als sie und tut, als wäre nichts. Das reizt sie am meisten. Am liebsten würde sie sich auf ihn stürzen, ihn schütteln und die Fahrkarte aus ihm herausprügeln. Aber erstens würde sie in solch einem Zweikampf wahrscheinlich sowieso verlieren, und zweitens will sie jede Aufmerksamkeit, alles Laute oder Auffällige möglichst vermeiden. Und so stottert sie nur wütend: »Du, du … Mistkerl. Rück die Fahrkarte heraus.«
»Sorry, kennen wir uns?«, fragt er.
Der ist gemein. Der ist so gemein!
Isabella kann es nicht fassen. Da sitzt dieser Junge, sieht sie scheinheilig aus dunklen großen Augen an und spielt den Ahnungslosen. Jetzt grinst er auch noch.
»Ob wir uns kennen, fragst du mich? Und ob wir uns kennen. Du hast mir heute Nachmittag an der U-Bahn-Station meine Tasche geklaut. Ich habe sie bei Danni wiedergefunden, aber das Wichtigste fehlte: meine Fahrkarte nach Paris, mein Handy, meine Ersparnisse. Ich soll dir übrigens viele Grüße von Danni ausrichten, sie ist derselben Meinung wie ich: Du bist eine Mistkröte, und die Nummer, die du hier abziehst, ist nicht mehr witzig, überhaupt nicht. Ich brauche die Karte, ich muss zu meiner Schwester Clara fahren.«
Sie spuckt ihm die Worte ins Gesicht. Sie purzeln nur so aus ihrem Mund. Als sie Dannis Namen erwähnt, gefriert für einen Bruchteil von Sekunden das Lächeln auf Johns Lippen. Isabella wütet weiter, dabei ist es gar nicht so einfach, leise und gleichzeitig wütend zu sein. Denn sie darf und sie will ja nicht auffallen.
Sie holt tief Luft und dann geht es weiter: »Behauptest du immer noch, du kennst mich nicht?« Sie fühlt ihr Herz bis zum Hals pochen. Ihre Fäuste sind geballt, die Fingerknöchel schneeweiß. »Gib mir sofort meine Fahrkarte zurück«, zischt sie.
»Es ist doch eigentlich ganz einfach.« Er richtet sich auf und schaut sie direkt an. »Ich habe eine Fahrkarte und du nicht. Ich bin sehr gespannt, wie du dem Schaffner beweisen willst, dass das deine Fahrkarte ist.« Er klopft mit einer Hand auf die Brusttasche seiner Jacke. »Ja, dass es angeblich deine ist. Ich glaube nicht, dass du mit der Nummer durchkommst.« Er nickt und steckt seine Nase wieder in sein Mangaheft. Damit scheint das Gespräch für ihn beendet.
Isabella stockt der Atem. So eine bodenlose Frechheit! Am liebsten würde sie auf ihn draufhauen. »Warte nur«, sagt sie wütend, »ich werde dich kriegen.«
Es ist ihm egal. Das sieht sie an seinem leicht spöttischen Lächeln. Und daran, dass er die Augen zusammenkneift und ihr zuflüstert: »Jetzt reg dich mal wieder ab und mach nicht so ein Gesicht. Das gibt nur Falten.«
Isabella faucht: »Ich kann Gesichter machen, wie ich will. Vor allem, wenn ich mit einem Dieb rede.«
Sie hält es nicht länger aus, springt auf, stellt sich voller Wut und Enttäuschung ans Fenster. Und dazu kommt der Schmerz. Die Wunde pocht. Isabella kann nicht anders, sie weint, schluchzt, beißt sich wieder auf die Lippen, atmet tief durch. Sie muss erst einmal ruhig werden, nachdenken. Sie starrt aus dem Zugfenster, doch sie sieht nur Dämmriges und Dunkles vorbeisausen.
Isabella lehnt am Fenster. Sie bläst die Backen auf, überdenkt ihre Situation. Die Wahrheit ist, sie hat nichts gegen ihn in der Hand.
Und sie will nach Paris. Sie muss !
Doch da hat sie eine Idee. Er hat ihr Portemonnaie und darin steht ihr Name. Und wenn der Schaffner käme, könnte sie sagen: »Das ist gestohlen. Da steht ein Mädchenname. Mein Name. Isabella Morgenstern!« Aber was, wenn John sich dann weigert,
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