Wir sehn uns wieder in der Ewigkeit
einen Augenblick lang, und immer war ihr nur dieses eine in den Sinn gekommen: das weiße Kleid aus feinem Batist, zu dem leuchtend blauen Mantel. Sie streicht die feinen Strümpfe glatt, die sie aus der Tasche genommen und über die Lehne des Stuhls gehängt hat, die Strumpfbänder aus blauschwarzer Seide dazu. Die weißen Handschuhe. Sie stellt die beiden schwarzen Schuhe aus feinem Ziegenleder noch genauer nebeneinander, legt die Bänder hinein. Sie berührt den Klopstock, ihr liebstes Buch, flüchtig und unentschlossen. Ihr wird ganz sonderbar. Ein bisschen schwummerig im Kopf. Lass alles stehen und liegen, flüstert eine Stimme in ihr, fahr nach Berlin zurück! Nur: wie?
Sie hat sich so gefreut. Sie hat sich so auf diesen langen Abend mit Heinrich gefreut, diese ganze lange Nacht.Endlich einmal allein! Endlich einmal ungestört! Sie könnten so lange miteinander sprechen, wie sie wollten – und jetzt war es schon aus. Wie sollte sie ihm morgen früh gegenübertreten? Wie sich ihm anvertrauen?
Sie ist still, das Zimmer ist still, das Haus ist still. Eine Stille, vor der sie sich die Ohren zuhalten möchte, so entsetzlich ist sie! Doch nein, da, nebenan, hört sie etwas. Sie spitzt die Ohren. Sie steht auf, schleicht auf leisen Sohlen zur Tür hin, lauscht. Nichts. Sie geht noch einen Schritt näher heran. Eine magische Grenze hält sie zurück. Schließlich hört sie seltsame Geräusche, ein leises Grummeln hört sie. Ihr Herz klopft, so laut, sie hat Angst, er könnte es hören. Stolz ist sie aber auch. Sie kehrt um. Setzt sich vorsichtig wieder aufs Bett und starrt auf die verschlossene Tür, als täte sie etwas Verbotenes.
Henriette fällt ein stilles Elend an. Sie sieht sich in dem fremden Zimmer um. Das Zimmer atmet ihre Verzweiflung. Der Stuhl mit den Sachen, der Tisch mit dem Schreibzeug: Was machst du hier? Ist dies dein Leben? Das konnte nicht sein. Nein. Entsetzliche Sehnsucht nach Pauline überkommt sie, zerrt an ihr, zerrt und kratzt und treibt ihr Hitzeflecken an den Hals, hingehen möchte sie zu ihr, wie so oft, wenn es spät geworden ist, wenn sie, am Abend, allein, noch ein Buch gelesen hat, in Paulines kleine Kammer, mit der Kerze in der Hand, leise leise, nachsehen, ob sie schläft, ihre Decke noch einmal hochziehen, das süße schlafende Gesichtchen streicheln und über die feinen Wimpern lächeln, die ein so zartes Rund unter den geschlossenen Augenlidern bilden, lächeln über das halb geöffnete Mündchen, in dem sich ein bisschenSpeichel gebildet hat, der zwischen den aufgeworfenen Lippen glänzt. Wer wird ihr am Abend vorlesen, wenn sie nicht mehr da ist? Wer? Wie liebt sie dieses Mädchen! Ein Schluchzen wächst in ihr, es wird herausbrechen, ungezähmt und roh, aus ihrer tiefsten Einsamkeit, das Kind ist das beste Geschenk ihres Lebens. Das einzige, das überlebte, von allen, von vier Kindern ein einziges, und sie will es verlassen? Wie ein böses Tier springt ihr die Angst an den Hals, schnürt ihr die Brust zu, groß, hässlich, mit Klauen, die ihr in die Schulterblätter fahren, ihren Magen herumwirbeln, ihr den Schwindel vor die Augen schicken, als würde ihr Kind vor ihren Augen erstochen, ihre Kehle wird eng und trocken, sie bekommt keine Luft –
So hab ich mir das nicht vorgestellt, will sie schreien, doch sie kann nicht,
sie springt auf, sie will rufen,
Heinrich, Heinrich, bitte, lass mich zu dir –
Sie kriegt die Worte nicht heraus, taumelt zur Tür, die Hand am Hals, als müsste sie ersticken, so ist ihr, sie zögert eine letzte Sekunde, reißt die Tür auf, will schreien –
Er sieht sie, aufgewühlt, das Haar aufgelöst, die Hand am Hals, würgend, keuchend –
Heinrich sieht sie vom Tisch aus an, als wüsste er nicht, wer sie ist! Als habe er sie vergessen! Was für ein schrecklicher Anblick!
Heinrichs leere blaue Augen, ohne Gedächtnis, er hat sie vergessen, und sie stürzt und stürzt und fällt und fällt.
Henriette fällt auf den Boden der Wirklichkeit zurück. Sie knallt hart auf, es tut weh wie sieben Messer. Dochgenau in diesem Stich fasst sie sich, sie reißt sich zusammen, wie es heißt, genau in diesem Unverständnis findet sie sich wieder – Aber ach, verflucht diese elende Selbstbeherrschung! Verflucht die ewige Selbstverleugnung! Verflucht die Sanftmut, die jede Verletzung fortschiebt und fortdenkt, ich bin nicht wichtig, alles ist gut, es hat keine Bedeutung, achte nicht auf mich, bewahre die Haltung,
Contenance
, stör keinen mit deinen
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