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Wir sehn uns wieder in der Ewigkeit

Wir sehn uns wieder in der Ewigkeit

Titel: Wir sehn uns wieder in der Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
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Gefühlen! Entmutigt ist sie, auf einen Schlag, was für eine unerhörte Aufwallung ihres Herzens, nein! Und schon will sie den Rückzug antreten, wie so oft in ihrem Leben, wie so viele hunderttausend Mal. Doch etwas hält sie, hält sie fest, sie bleibt auf der Schwelle hängen, wie aufgehängt an ihrem ratlosen Entsetzen, und Heinrich, aus seiner Starre kommend, erkennt in diesem Augenblick, sekundenschnell dann doch, was los ist, mit ihr, sieht ihr Würgen, ihren Kummer, und erhebt sich, schnauft, springt, mit der Waffe in der Hand, stolpert vier, fünf Schritte durchs Zimmer auf sie zu, hebt die Arme hilflos schüchtern, rudert herum und legt sie schließlich um die zitternde Freundin.
    Jettchen, was ist denn? Was hast du denn?
    Du, du –
    Henriette kriegt kein Wort raus. Ihre Knie geben seltsam nach, ihr Gaumen ist trocken.
    Plötzlich begreift er. Seine bösen Worte fallen ihm ein.
    Aber Jette! Ich wollte dich nicht kränken!
    Sie schluchzt auf, jault auf, ihre Schultern schütteln sich, er hält sie fest, er wartet, bis sie sich ein wenig beruhigt. So stehen sie.
    Dann löst er sich ein wenig von ihr, legt Waffe undLappen, die er noch immer ungeschickt in den Händen hält, auf den Tisch. Dass er auch immer so unbeholfen sein muss. Er überlegt, hat einen Einfall: er zieht den zweiten Stuhl heran.
    Komm, bitte, setz dich. Wein nicht, ich bitte dich. Ich kann keine Tränen sehn!
    Er reicht ihr sein großes, zerknülltes Taschentuch, er zieht es aus seiner Hose. Sie sieht es an, zögert, nimmt es. Ganz eng zueinander stellt er die beiden Stühle, ganz eng beieinander sitzen sie, die Knie aneinander, die Hände ineinander. Henriette zittert noch immer wie Espenlaub, ihr Gesicht ist weiß wie ein Laken, es dauert endlose Minuten, bis sie schließlich sagt:
    Ich denke ununterbrochen an Pauline.
    Mh, brummt Heinrich und streichelt über Henriettes Hand.
    Er sieht sie erwartungsvoll an, sie soll weiterreden, er weiß nicht, was sagen.
    Allmählich löst sich ihre Befangenheit. Und sie spricht von Pauline, ihrer Tochter. Wie sie ihre ersten Schritte machte, als Heinrich sie noch nicht kannte, als er weit fort war, mit anderen Gedanken beschäftigt. Wie sie lernte, sich auf dem Schaukelpferd zu halten. Wie sie zu sprechen anfing und wie sie, die kleine Zunge konzentriert zwischen den Lippen, auf der Schiefertafel ihre ersten Buchstaben zu zeichnen begann. Wie später Heinrich ihr manchmal Aufgaben stellte, Bilderrätsel und Wortspiele, die sie nicht schnell, eher nach gründlicher Überlegung, glücklich löste. Wie er ihr Geschichten erzählte oder Verse aufsagte, von Bettelmanns Hochzeit oder vom Schneider und dem Teufel, Rinaldo Rinaldini, allesamtaus »Des Knaben Wunderhorn«, der schönen Sammlung der Freunde Achim von Arnim und Clemens von Brentano, die Heinrich Pauline bald darauf zu Weihnachten schenkt.
    Ich möchte vor tausend Taler nicht,
    Dass mir der Kopf ab wär,
    Da spräng ich mit dem Rumpf herum
    Und wüsst nicht, wo ich wär –
    Hör auf, Heinrich, hör auf, hatte Henriette empört gerufen, was für ein unheimlicher Vers!
     
    Heinrich und Henriette sitzen im fremden Gasthof Stimming am Wannsee, im kalten Monat November, weit fort von allen anderen, die sie kennen, als ob es gar nichts wär, als ob sie nur eine Reise machten, was ja auch stimmt, sie machen eine, eine sehr große sogar, und sie erinnern sich an die kleine Pauline, als ob dieses Kind nicht mehr wär – dabei ist es doch ganz anders,
sie
werden bald nicht mehr sein –
    Manchmal denkt man an ein Kind, wenn man sich gerade selbst wie ein Kind fühlt, nicht wahr?
    Heinrich sagt manchmal so überraschende Dinge, Henriette liebt ihn heftig dafür.
    Als ob sie ein Album langsam durchblätterten, sitzen sie jetzt und lassen gemeinsam Bilder vor ihren Augen entstehen: Weißt du noch, weißt du noch –
    Wie die Kleine manchmal am Boden hockte und malte, während Heinrich und ihre Mutter, die er Henriette nannte, obwohl alle anderen sie Adolphine riefen, amKlavier saßen und vierhändig spielten und sangen, vielleicht ein Duett vom Prinzen Ferdinand, oder wie er sie auf der Flöte begleitete, von Haydn eine Etüde, von Mozart eine hübsche Serenade, und wie Pauline manchmal eine Melodie mitgesungen, die sie schon kannte, oder im Takt genickt hat dazu. Wie Heinrich ihr erlaubt hatte, einmal die Flöte oder sogar sein liebstes Instrument, die Klarinette, auszuprobieren, und wie erschrocken sie war, als die Töne nicht wohlklingend und leicht

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