Wir sehn uns wieder in der Ewigkeit
zerren beginnen und er sich die Hände gegen den Kopf pressen muss, die Augen und Ohren verschließen, und am liebsten die Nase auch noch. Manchmal denkt er an seinen alten Freund, der versuchte, sich das Leben zu nehmen, und dem es damals nicht gelang. Er denkt an alle, die er geliebt und die nicht für ihn da sind. Alle Wörter, die über seine Werke gesagt worden sind, nur nicht die guten, anerkennenden, hämmern in seinem Gehirn wie böses Klopfen auf hartem Metall:
verschroben, obszön, exaltiert, übertrieben, maßlos, unverhältnismäßig, sonderbar, besessen
. Er fühlt sich unerbittlich allein. Er möchte ausgehen, er verabredet sich, und kurz davor befällt ihn eine Panik. Die Rahel bittet ihn zu kommen, er freut sich auf sie, doch er fürchtet ihren gnadenlosen Blick. Sie müssen ehrlich sein, würde sie sagen, Sie müssen sich selbst alle Fragen stellen, unerschrocken müssen Sie sein. Was soll er sagen? Dass er kein Geld mehr hat? Dass ihn niemand anstellen will, in keinem Amt? Nicht beim Militär? Dass er kein Geld für seine Stücke erhält und keines für seine Geschichten? Dass ihm die Worte ausgehen? Dass er sein Erbe verbraucht hat und nichts als Schulden? Dass er nicht weiß, wie es weitergeht? Was soll er den Leuten erzählen? Nein, er kann es nicht, er schämt sich zu sehr, er schreibt kleine Zettel, entschuldigt sein Fehlen, er geht nicht mehr hin, zu keiner und zu keinem. Nur zu Henriette kann er noch, sie heißt ihn immer willkommen. Nichts muss er ihr vormachen, und nichts muss er beweisen. Sie kränkt ihn nie. Mit Henriette, manches Mal, beruhigt er sich ein wenig.
Er sagt, es sei, als unterhielten sie sich wie in einem tiefen Traum, über Dinge, die sie bei Tag niemals wüssten.
Und Henriette sieht, es gibt nur einen einzigen Ort für ihn und sie, an dem sie glücklich sein können und vereint.
Pauline wird gut aufgehoben sein, denkt Henriette, in ihrer letzten Nacht, als sie endlich den Brief an ihren treuen Freund Ernest Peguilhen schreibt, bei Frau Manitius in Königsberg, und sie wird sich an eine Mutter erinnern können, die nicht von Kummer und Schmerz gezeichnet sein wird, weil sie mit dem Menschen nicht leben kann, dem ihre Liebe gehört. Sie will es auch Louis noch einmal schreiben. Sie will nicht, dass Pauline bei Julie Eberhardi groß wird, nein, das will sie wirklich nicht. Und sie fügt noch etwas an Louis hinzu:
Und trenne mich ja nicht im Tode von Kleist!
Henriette legt sich auf ihr Bett und weint.
(In der Nacht glaubt der Atheist halb an Gott, sagt Edward Young)
Es ist zwischen vier und fünf Uhr am Morgen, es ist die Stunde der tiefsten Nacht. Die Dunkelheit ist vollkommen, die Sterne erloschen, der Mond verschwunden. Kein Laut. Kein menschlicher, keiner von einem Vieh. Selbst der See scheint zu verstummen.
Wozu warten?, denkt Heinrich und nimmt die Pistole in die Hand. Wozu sich all diesen wirren Empfindungen aussetzen, wenn in wenigen Stunden alles vorbei sein soll? Wozu sich mit einer Menschenseele verständigen, wo es keine Verständigung gibt?
Er setzt die Waffe an, er spürt das Ende ihres Laufs kühl an seiner Stirn. Er legt den Finger in den Abzug. Er fühlt das Metall, das Gewicht.
Die Hoffnung ist die Mörderin der Freude, geht es ihm durch den Kopf, sie hetzt uns bis zum letzten Atemzug.
Er lässt die Waffe sinken.
Sein halbes Leben hatte er sich immer wieder und nichts so sehr gewünscht, wie gemeinsam mit einem andern in den Tod zu gehen. Er wusste nicht, warum, doch der Gedanke hatte ihn beherrscht, seit er ein heranwachsender Junge war. Mit einem geliebten Menschen in den Tod zu gehen. Er hatte seine Freunde gefragt, Ernst, Rühle, Brockes, auch Marie. Vergebens.
Und dann Henriette.
Lange hatten sie sich darüber unterhalten. Sie hatten zusammen das geliebte Buch gelesen, die »Klagen, oder Nachtgedanken« von Edward Young, sie hatten die Köpfe darüber zusammengesteckt, sie hatten daraus einander vorgelesen, es wieder und wieder durchblättert. Heinrich liebte diese Lektüre schon lange, in der der englische Geistliche, der über den Tod seiner Gemahlin nicht hinwegkam, eine ganze Philosophie der Unsterblichkeit entfaltet hatte, systematisch, tief melancholisch und voller Poesie. Hölderlin hatte ihn verehrt, auch Novalis; ihnen allen hatte es gefallen zu vernehmen, dass ihre Schwermutdas Zeichen einer göttlichen Erkenntnis sei, »ver kleidete Hoheit«, wie Young sie nannte, eine Wahrheit, wie im Traum, der
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