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Wir sehn uns wieder in der Ewigkeit

Wir sehn uns wieder in der Ewigkeit

Titel: Wir sehn uns wieder in der Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
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haben einen noch stärkeren Trost, sie lesen die »Klagen, oder Nachtgedanken« des Engländers Edward Young, wieder und wieder, über Liebe, Tod und Unsterblichkeit,
    und glaube mir, da ist eine poetische Verzückung, das ist nicht das, was die Kirche meint, oder der Pfarrer mit seiner Predigt. Das ist etwas in diesen Versen, eine erotische Ekstase, die in diesen Worten steckt, und eine Sehnsucht nach dem Tod, der nichts anderes ist als eine große Lust, eine vollkommene Verzückung, und Henriette fällt in Ohnmacht, vor lauter Himmelssehnsucht, und Heinrich hebt sie auf und hält sie in den Armen, einen verrückten Augenblick lang, so zart wie er nur kann, und es zieht ihn mächtig an, dieses entwaffnete Entzücken.
    Sie ist nun endlich einmal wichtig, Henriette.
    Eine ganze Weile lang hat sie sich in dieser Freundschaft ausgeruht. Hat sich erholt von all den anderen Geschichten.
    Vielleicht ist gerade Frühling, oder vielleicht ist es schon Sommer und die Linden duften, vielleicht klopft ihr Herz plötzlich so anders, wenn Heinrich neben ihr sitzt und sie singen,
näher, mein Gott, zu dir
. Vielleicht sucht ihre Hand, sucht ihr Ellenbogen eine Berührung, und vielleicht atmet sie schneller, wenn es wie beiläufig geschieht.
     
    Und Heinrich?
    Er ist allein. Alle haben die Stadt verlassen, Adam ist nach Wien geflohen, Ernst nach Nenndorf auf das Land, Marie hat nicht mit ihm sterben wollen und macht jetzt eine Kur. Er weint Adam hinterher, so sehr wie er ihn hasst. Er begreift sich selbst nicht darin, doch es ist so. Er schreibt Marie hinterher, die Enttäuschung stärkt das Verlangen. Madame Sander hat ihren Salon geschlossen, Achim von Arnim die Ehe mit Bettine, fort sind auch sie. Keine Unterhaltung, keine Aussicht, der August ist heiß, der September macht die Katastrophe deutlich. Er schreibt verzweifelte Briefe. Niemand will ihn. Er kann sich selbst nicht mehr sehen. Alle Verbindungen zerreißen. Er liegt im Bett und will nicht aufstehen. Diese Überempfindlichkeit. Manchmal hört er eine Stimme sagen: du benimmst dich schwach wie eine Frau. Ich muss die Frau in mir töten, denkt er. Doch dann töte ich mich.
     
    Henriette. Henriette kommt und klopft. Henriette sagt, besuch mich, warum kommst du nicht mehr? Wir spielen Klavier, ich habe neue Noten, komm, lass uns ein paar Schritte laufen. Lass uns etwas lesen. Wenn er hungrig ist, geht er zu ihr. Diskret. Es muss niemand wissen. Doch wer interessierte sich schon dafür?
     
    Immer mehr Wehmut empfindet Henriette, bei allem Glück mit Heinrich. Das eine scheint das andere zu steigern. Sie läuft durch die Straßen ihrer Stadt, immer häufiger allein, ohne das Kind an der Hand, das Kind hat sie zu ihrer Freundin gegeben, Amöne, oder einer anderen, oder sie bei Dörte gelassen, ihrer Magd, und sie läuft durch dieStraßen, mit glühenden Wangen und dem Gefühl, in eine tiefe Ohnmacht zu sinken, einfach so, weil sie es alles nicht mehr erträgt. Weil sie bei Heinrich sein will und es nicht kann, weil sie seit Langem zum ersten Mal keine Schmerzen mehr empfindet, keine körperlichen Schmerzen, und weil sich stattdessen in ihr ein ungeahntes Verlangen ausbreitet, das sie in Panik versetzt und einen berauschenden, besinnungslosen Glückszustand zugleich, wie ein Fallen ohne aufzuschlagen, ein Getragenwerden, ein Schweben, wie ein vollkommenes Schweben. Dann wieder packt sie ein heilloses Unglück, als wäre irgendetwas in ihr irreparabel zerstört, sie sieht all die vertrauten Plätze, den Gendarmenmarkt mit dem Schauspielhaus, die Friedrichstraße mit dem Geschäft ihres Vaters, die Mohrenstraße, die Kronenstraße, in der sie auch einmal gewohnt hat, den Paradeplatz. Und alles sieht sie so entsetzlich fremd an, genau in dem Augenblick, in dem sie alles wie zum ersten Mal sieht, genau, stechend scharf, und dann fällt ihr Blick auf das Kopfsteinpflaster, auf dem sie geht, und sie hat das Gefühl, dass es zu schwanken beginnt, sich auftun will, und sie will sich hineinstürzen, damit es alles aufhört, an ihr zu reißen. Und manchmal –
    Manchmal hat sie das Gefühl, ein unbekanntes Schattenwesen begleite sie, gehe neben ihr umher. Ziehe an ihr, sie weiß nicht, wohin.
    Doch, sie weiß es.
     
    Und Heinrich?
    Er fühlt sich wie aufgerissen, seit Monaten schon. Das Riechen, Schmecken und Sehen überfällt ihn wie Nadelstiche,sodass diese Wahrnehmungen, die ihn, ihm früher einzeln begegnend, glücklich machen konnten, nun alle zusammen, in der Menge, an ihm zu

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