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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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sein, wenn …«
    »Du begreifst es wirklich nicht, oder?«, unterbrach Charlotte sie. »Oder willst du es nur nicht? Nora hat keine Angst, dass du ihr Louise abspenstig machen könntest, Liebes. Sie hat Angst, dass Louise dich ihr abspenstig macht!«
    »Oh«, murmelte Lena. Nora? Und sie? Das war grotesk. Und selbst wenn - dann hatte Nora eine wirklich sonderbare Art, es ihr zu zeigen. »Was für ein Quatsch«, sagte sie noch einmal.
    »Ja, ganz ohne Zweifel«, sagte Charlotte amüsiert und zog an ihrer Zigarette.
    In diesem Moment ging die Tür auf, und Louise kam zurück. Sie hatte das Handy wieder zusammengeklappt.
    »Ich habe mit Stepan gesprochen«, sagte sie. »Er wird sich mit deinem Freund unterhalten, diesem Bewährungshelfer. Wenn er vernünftig ist, dann lässt er ihn vielleicht sogar am Leben.«
    »Wie beruhigend«, sagte Lena. »Und … meine Mutter?«
    »Deine Mutter?« Louise verstand ganz offensichtlich nicht, wovon sie sprach. Dann jedoch schüttelte sie beruhigend den Kopf. »Der passiert nichts.«

    »Aber dir ist doch hoffentlich klar, dass du sie niemals wiedersehen wirst, oder?«, sagte Charlotte.
    Natürlich war ihr das klar. Was ihr nicht klar gewesen war und sie mit einem sachten Erstaunen erfüllte, war die vage Trauer, die sie plötzlich empfand. Spätestens seit sie Noras Blut getrunken hatte, hatte sie die Tür zu ihrem alten Leben endgültig hinter sich zugeschlagen, und es war eine Tür ohne Klinke auf dieser Seite. Aber wozu auch? Es gab auf der anderen nichts, dem sie nachgetrauert hätte, nur ein Leben, das diesen Namen nicht wirklich verdiente; eine sich unerbittlich drehende Abwärtsspirale, die irgendwann unweigerlich in einer Katastrophe geendet hätte. Und ihre Mutter? Eine lieblose Frau, die in ihrer eigenen Welt lebte und immer weiter darin versank und in gar nicht mehr so ferner Zukunft entweder an ihrem Übergewicht oder am Suff zugrunde gehen musste? Wie oft hatte Lena sich einzureden versucht, dass sie ihr nichts bedeutete und sie ohne sie weit besser dran wäre? Das alles mochte stimmen, und dennoch hatte sie für einen Moment ein so intensives Gefühl des Verlustes, dass sie gegen die Tränen ankämpfen musste.
    »Mach dir nichts draus, Kleines.« Louise stand plötzlich neben ihr. Ihre Hand legte sich warm auf Lenas Schulter. »Loslassen tut immer weh. Sogar wenn man glaubt, dass man das, was man hat, eigentlich gar nicht will.«
    Lena wollte Louises Hand abstreifen, aber sie konnte es nicht. Da war etwas in ihrer Berührung, was sie paralysierte. Es war nicht Louises Willen, der den ihren so mühelos hätte zerbrechen können wie eine starke Faust einen Zweig, sondern schlicht und einfach ihre Nähe, das ehrlich empfundene Mitleid, das sie in ihren Augen las. Louise hatte von sich selbst behauptet, kein Mensch zu sein … und zugleich war sie vielleicht das menschlichste Wesen, das ihr jemals begegnet war.
    Statt die Hand wegzuschieben, legte sie den Kopf auf die Seite und schmiegte das Gesicht daran. Louise begann ihren
Hals und ihre Wange zu streicheln, und auch an dieser Berührung war nichts von alledem, was sie erwartet hätte. Louise hatte keinen Zweifel an ihrem Verlangen nach ihr gelassen, aber in dieser Berührung war nichts als Trost.
    »Ich schaue noch einmal nach Nora.«
    Charlotte klappte ihr Buch zu, schnippte die Zigarette zielsicher in den Kamin und stand auf.
    Louise zog ihre Hand zurück und sah etwas verlegen aus. »Ja, und wir … sollten sehen, dass wir auch noch ein paar Stunden Schlaf finden.« Sie räusperte sich. »Wir haben alle einen anstrengenden Tag hinter uns und brauchen ein bisschen Ruhe.«
    Lena war nicht müde, ganz im Gegenteil, sie hatte so viel getrunken, dass sie das Gefühl hatte, vor Energie zu beben. »Aber ich …«
    »Überschätz deine Kräfte nicht, Lena«, fiel ihr Louise ins Wort. »Sie sind im Vergleich zu dem, was du bisher gekannt hast, gewaltig, aber sie sind nicht unerschöpflich, und du hast heute eine Menge mitgemacht. Du musst erst noch lernen, damit hauszuhalten.«
    »Aber ich bin nicht müde!«, protestierte Lena.
    »Bist du doch«, antwortete Louise und sah ihr tief in die Augen. Lena brach zwar nicht unbedingt wie vom Blitz getroffen zusammen, aber sehr weit davon entfernt war sie nicht. Sie schaffte es gerade noch bis zur Couch, bevor ihr die Augen zufielen.

17
    Lena erwachte schlecht gelaunt - und mit hämmernden Kopfschmerzen und einem grässlichen Geschmack auf der Zunge - mit dem letzten Licht des Tages.

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