Wir sind die Nacht
wenig Sinn, also zog Lena es vor, überhaupt nicht zu reagieren, was Louise aber vollauf zu genügen schien.
»Es wäre hilfreich gewesen, wenn du uns das erzählt hättest«, sagte sie.
»Wegen der paar Kröten, die ich ihm geklaut habe?«
»Hast du sie noch?«
»Die Brieftasche?« Lena dachte noch einmal an das Trümmerfeld, in das Iwans Freunde ihr Zimmer verwandelt hatten. »Nein. Wenn sie noch da war, dann hat Tom … haben die Polizisten sie gefunden.«
»Wenn sie sie hätten, dann wärst du jetzt nicht hier, sondern
würdest dich ganz allein mit deinem schnuckeligen Freund von der Soko unterhalten«, sagte Charlotte.
Darauf war Lena auch schon gekommen. Sie hob nur die Schultern.
»Aber du hattest sie?«, beharrte Louise. »Das war wirklich nicht sehr klug. Mit diesen Leuten ist nicht zu spaßen. Deine Mutter hat großes Glück, noch am Leben zu sein. Wäre es denkbar, dass sie sie hat?«
»Meine Mutter?« Lena schüttelte den Kopf. »Die geht nicht in mein Zimmer, weil ich es ihr verboten habe …« Sie überlegte kurz, obwohl es im Grunde nicht nötig war. »Holden.«
»Dein freundlicher Bewährungshelfer?«
»Die Ratte klaut, was nicht niet- und nagelfest ist«, sagte Lena. »Vorhin im Keller hat er ein paar komische Fragen gestellt. Ich … war nicht ganz bei der Sache, deswegen hab ich mir nichts dabei gedacht, aber ich glaube, er interessiert sich für die Russen.«
»Wenn er wirklich verrückt genug ist, Stepan erpressen zu wollen, dann sollten wir ihn das vielleicht einfach tun lassen, und die Sache ist damit erledigt«, schlug Charlotte vor.
Louise seufzte. »Ja, vielleicht.« Sie stand auf, trat an den Schreibtisch und nahm ein verchromtes Handy aus der Schublade. »Ich rufe Stepan an. Vielleicht ist es ja noch nicht zu spät, um das Schlimmste zu verhindern.«
Sie ging hinaus, und Lena sah ihr einigermaßen verstört nach. »Das Schlimmste verhindern?«
»Mit Stepan und seinen Freunden ist wirklich nicht gut Kirschen essen«, sagte Charlotte. »Er wird deinen Freund umlegen. Vielleicht kann Louise ihn davon abhalten, vollkommen Amok zu laufen.«
»Wie könnte er denn noch mehr Amok laufen, als Holden umzubringen?«, sagte Lena.
»Er könnte dich umbringen, Kleines«, antwortete Charlotte,
»oder deine Mutter, oder deinen kleinen Polizistenfreund.« Sie machte eine beruhigende Geste. »Aber keine Sorge. Ist nicht das erste Mal, dass wir mit ihm zu tun haben. Louise bringt ihn schon zur Vernunft. Er wird es nicht wagen, dir oder jemandem aus deiner Familie etwas zu tun, wenn er weiß, dass du zu uns gehörst. Stepan ist ein Idiot, aber er hält sich an die Regeln.«
»Tue ich das denn?«, fragte sie. »Zur Familie gehören?«
Statt gleich zu antworten, klappte Charlotte ihr Buch zu, sah auf die Armbanduhr und sagte dann: »Seit einer knappen Stunde, Lena.«
»Was soll das heißen? Ihr habt gesagt, ich hätte noch ein paar Tage, um mich zu entscheiden.«
»Das war, bevor du Noras Blut getrunken hast«, sagte Charlotte liebenswürdig.
Lena starrte sie an.
»Hat Nora dir das nicht gesagt?«
»Was gesagt?«
»Unser Blut ist ein ganz besonderer Saft. Der Goldene Schuss, wenn du so willst. Sei froh, dass du noch lebst. Aber ein Zurück gibt es jetzt nicht mehr.«
Das hatte es auch vorher wahrscheinlich nicht gegeben, gestand sich Lena ein. Sie hatte die grausamen Schmerzen und die Halluzinationen nicht vergessen. Und dabei hatte der Entzug wahrscheinlich noch nicht einmal richtig angefangen.
Aber Nora hätte es ihr trotzdem sagen müssen.
»Sie hatte kein Recht dazu«, murmelte sie.
»Wahrscheinlich nicht«, sagte Charlotte. »Aber das hat Nora noch nie gestört.«
»Du magst sie nicht, stimmt’s?«
»Nora?« Charlotte sah sie überrascht an. »Natürlich mag ich sie, wo denkst du hin? Sie ist wie eine Schwester für mich. Aber sie ist eben noch jung.«
»Keine hundert Jahre, wie?«
Charlotte ignorierte das. »Sag mal - hast du es wirklich nicht gemerkt?«
»Was?«
»Dass Nora eifersüchtig ist?«
»Nora? Eifersüchtig?« Das war lächerlich. »Aber dafür gibt es überhaupt keinen Grund! Ich will nichts von Louise - ich weiß, dass sie sich einbildet, Chancen bei mir zu haben, aber das ist Quatsch.«
Charlotte lächelte nur.
»Und es ergibt überhaupt keinen Sinn!«, begehrte Lena auf. »Wenn sie Angst hat, dass ich ihr Louise streitig mache, dann hätte sie doch erst recht keinen Grund, mich zu einer von euch zu machen! Ganz im Gegenteil, sie sollte doch echt froh
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