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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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sich ein, dass es nur der Regen war.

22
    Selbst bei Nacht wirkte der Ferrari in diesem Teil der Stadt wie ein Fremdkörper; ein Eindringling aus einer fremden, andersartigen Welt. Ein intensives Gefühl der Feindseligkeit begleitete Lena und wurde auch immer stärker. Dieser Wagen sollte nicht hier sein. Sie sollte nicht hier sein. Und wenn sie es recht bedachte, dann sollte vielleicht diese ganze verdammte Stadt nicht hier sein.
    Lena war sich durchaus bewusst, dass sie sich gefährlich nahe am Rand der Hysterie entlangbewegte, aber sie gestand sich das auch zu. So ziemlich jeder wäre nach dem, was sie erlebt hatte, hysterisch geworden. Sie war sich sogar darüber im Klaren, wie dumm sie sich verhielt. Sie sollte nicht hier sein, sondern im Club, um mit Louise zu sprechen, über Tom, über die Russen und über das … Ding, das sie an der Mauer über sich gesehen hatte, über Charlotte und Nora und tausend andere Dinge, von denen jedes einzelne wichtiger war als das alberne Geld, das neben ihr auf dem Beifahrersitz lag.
    Aber vielleicht wäre das auch das Falscheste, was sie tun konnte. Aus logischer Sicht mochte es richtig erscheinen, aber sie hatte die Welt der Vernunft längst verlassen, und vielleicht war es an der Zeit, sich an das neue Leben zu gewöhnen und die veränderten Spielregeln zu akzeptieren. Vielleicht konnte sie diese ja sogar selbst bestimmen.
    Sie tippte auf die Bremse, um einem dunklen Schemen auszuweichen,
der selbstmörderisch nahe vor dem Ferrari über die Straße huschte - wahrscheinlich eine Katze -, und gab danach Gas, als müsste sie den Sekundenbruchteil wieder aufholen, den sie eingebüßt hatte. Das Heck des Ferraris brach aus und verfehlte eines der parkenden Autos nur um Haaresbreite, bevor sie den Wagen wieder unter Kontrolle bekam. Viel zu schnell jagte sie der nächsten Kreuzung entgegen, wo sie auf quietschenden Reifen in die Straße einbog, an deren Ende ihre Wohnung lag. Die letzten Meter ließ sie den Ferrari im Leerlauf ausrollen und hütete sich, das Gaspedal zu berühren.
    Es nutzte nichts. Selbst im Leerlauf war das dumpfe Blubbern des Motors noch laut genug, um in der engen Straßenschlucht wie ein Gewittergrollen widerzuhallen und vermutlich jeden zu wecken, der sich am vergangenen Abend nicht entweder ins Koma gesoffen hatte oder den sprichwörtlichen Schlaf der Gerechten schlief; womit in einer Gegend wie dieser ohnehin kaum zu rechnen war.
    Da sie nicht vorhatte, lange zu bleiben, parkte sie den Ferrari direkt vor der Haustür. Mehrere Stufen auf einmal nehmend, fegte sie die Treppe hinauf. Vor der Tür hielt sie an und legte das Ohr gegen das dünne Holz, um zu lauschen. Der Fernseher lief wie üblich, aber da waren auch noch andere Laute, die sie nicht sofort einordnen konnte. Seit ihre Sinne so überaus empfindlich geworden waren, hatte sich ihr ein ganzes Universum von neuen Eindrücken geöffnet, die ihr zum Großteil unbekannt waren. Sie versuchte trotzdem, sie zu identifizieren, schaffte es aber nicht und drückte die Klinke nach unten.
    Die Tür war abgeschlossen, vielleicht zum ersten Mal, seit sie in diesem Haus wohnte. Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihre Lippen. Immerhin hatte ihre Mutter begriffen, dass die Burschen, die ihr Zimmer verwüstet hatten, gefährlich waren - auch wenn sich Stepans Männer von einem lächerlichen Schloss wie diesem gewiss nicht aufhalten ließen.

    Auch Lena musste sich nicht großartig anstrengen, um die Tür mitsamt dem Schließblech nach innen zu drücken. Größere Mühe bereitete es ihr, dabei möglichst wenig Lärm zu verursachen. So gut es ging, drückte sie die Tür hinter sich zu und blieb einen Moment lang stehen, um sich zu orientieren. Der winzige Flur war dunkel, aber aus dem angrenzenden Wohnzimmer drang das Flackern des Fernsehers. Etwas rauschte. Wasser. Das Fenster musste offen stehen, denn sie spürte einen leichten Luftzug. Lena lauschte auf die Atemzüge ihrer Mutter, aber sie mussten wohl in den mannigfaltigen anderen Geräuschen untergehen. Irgendetwas stimmte hier nicht.
    Behutsam legte sie den Umschlag mit dem Geld auf das schmale Garderobenschränkchen, trat auf Zehenspitzen in das winzige Wohnzimmer und sah sich um. Das Licht war ausgeschaltet, aber das hektische Flackern des Fernsehers lieferte ausreichende Helligkeit, um sie das übliche Chaos erkennen zu lassen: die Schmink- und Manikürenutensilien ihrer Mutter, leere Bierflaschen und achtlos herumliegende Kleidungsstücke, Unmengen von

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