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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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aufgeschlagenen Zeitschriften und Monate alte Post, die nie geöffnet worden war. Ein aufgeklappter Karton, in dem noch eine halbe Pizza lag, und zahlloses andere … Zeug. Der Anblick war ihr über die Jahre so vertraut geworden, dass sie sich gar nicht mehr daran gestört hatte. Wie hatte sie all die Zeit nur so leben können?
    Sie ging um den Tisch herum und schlug die Decke auf der Couch zurück, als müsste sie sich davon überzeugen, dass ihre Mutter sich nicht darunter versteckt hatte. Dann durchsuchte sie nacheinander Schlafzimmer, Küche und sogar das Trümmerfeld, das einmal ihr Zimmer gewesen war. Als Letztes betrat sie das Bad, aus dem noch immer das Wassergeräusch drang. Was sich der Volksmund über Vampire und fließendes Wasser erzählte, musste wohl stimmen, dachte sie. Schon das Geräusch war ihr unangenehm.

    Vielleicht hatte sie auch geahnt, was sie erwartete, oder ihre zu nie geahnter Schärfe erwachten Sinne hatten es ihr verraten, ohne dass diese Erkenntnis bisher in aller Deutlichkeit in ihr Bewusstsein gedrungen wäre.
    Ihre Mutter lag rücklings in der Wanne, die sie mit ihren über hundertdreißig Kilo nahezu ganz ausfüllte. Die Dusche lief, aber der Stopfen war nicht eingesteckt, so dass das Wasser über ihr Gesicht und den altmodisch gemusterten Kittel strömte, um dann gluckernd im Ausguss zu verschwinden. Unter dem Kittel trug sie nichts, wie der nasse Stoff deutlich verriet, der sich erbarmungslos an jedem Speckwulst und jeder Falte festgesaugt hatte. Die weit aufgerissenen Augen starrten leer die Decke an, und die Halsschlagader war von der Halsbeuge bis zum Ohr hinauf aufgerissen. Die Wundränder waren weiß und so glatt wie von einem Skalpell geschnitten, und das strömende Wasser erzeugte eine Illusion von Bewegung, die Lena an ein vertikales Fischmaul denken ließ, das nach Luft schnappte. Sie stand vollkommen reglos da, sah auf den Leichnam ihrer Mutter hinab und wartete darauf, irgendetwas zu empfinden. Aber in ihr war nur Leere. Da war kein Entsetzen, kein ohnmächtiger Zorn, nicht einmal wirkliches Erschrecken. Ihre Mutter war tot - schlimmer noch, sie war ermordet worden -, aber sie empfand … nichts.
    Hatte Louise ihr auch das genommen, fragte sie sich, die Fähigkeit zu trauern, oder einem anderen Menschen gegenüber überhaupt etwas außer Verachtung zu empfinden und allenfalls, ihn als Beute zu sehen?
    Sie dachte an ihre Begegnung mit Tom, beantwortete sich die Frage mit einem ganz klaren Nein und streckte die Hand aus, um die Dusche abzustellen. Das Wasser, das ihr über den Arm lief, war ihr tatsächlich unangenehm, und als sie die Hand zurückzog, machte sie eine weitere erstaunliche Beobachtung: Das Wasser perlte wie Fett von einer mit Teflon beschichteten
Pfanne von ihrer Haut ab und tropfte auf den reglosen Körper ihrer Mutter, wobei kein bisschen Feuchtigkeit auf Lenas Haut zurückblieb. Sie veränderte sich immer noch, und irgendwie spürte sie, dass dieser Wandel noch lange nicht abgeschlossen war.
    Sie hörte nichts, sie sah auch nichts Verdächtiges, aber sie spürte die Bewegung hinter sich, fuhr mit einer unvorstellbar schnellen Drehung herum und nahm zugleich eine geduckte Abwehrhaltung ein, die rechte Hand erhoben und zu einer tödlichen Klaue gekrümmt. Ein zischender Laut kam über ihre Lippen, wie das Geräusch einer angreifenden Schlange.
    So schnell sie auch war, kam ihr die eigene Bewegung doch geradezu lächerlich langsam vor gegen die Schnelligkeit, mit der Nora ihr Handgelenk schnappte, mit der anderen Hand nach ihrer Kehle griff und sie dann mit solcher Gewalt gegen die Wand stieß, dass sie hören konnte, wie ein paar Fliesen mit einem knackenden Geräusch zersprangen.
    »Keinen Laut!«, zischte Nora. »Kann ich dich loslassen?«
    Lena rang sie sich ein angedeutetes Nicken ab, worauf Nora sie mit skeptischem Blick losließ.
    »Sei still!«, flüsterte sie. »Sie sind noch hier!«
    Lena richtete sich vorsichtig auf und starrte sie fragend an.
    Nora deutete in die Badewanne hinab. »Deine Mutter?«
    Lena nickte stumm.
    »Das tut mir leid«, sagte Nora in einem Ton, der gleichzeitig ehrlich wie beiläufig klang. »Aber zum Trauern ist jetzt leider keine Zeit.«
    »Die Kerle, die das getan haben … sind noch hier?«, murmelte Lena. Dann verdüsterten sich ihre Züge. »Gut, dann werden sie …«
    Nora brachte sie mit einer ärgerlichen Geste zum Schweigen. »… uns auch noch umbringen, wenn du noch ein bisschen
lauter wirst!«, fauchte sie.

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