Wir sind die Nacht
»Muss ich dir wirklich erklären, wer das getan hat? Schau doch hin!«
Lena hütete sich, das zu tun, aber es war auch nicht nötig. Sowenig sie der Anblick berührt zu haben schien, sowenig würde sie ihn jemals wieder vergessen. Die Wunde war entsetzlich tief gewesen, aber sie war weiß und sauber, und das Wasser, das in den Abfluss gelaufen war, klar. Im Körper ihrer Mutter war kein einziger Tropfen Blut mehr.
»Ein Vampir?«, murmelte sie.
»In diesem Moment würde ich das Wort Strigoi vorziehen«, schnaubte Nora. »Und es könnte mehr als einer sein.«
»Wir sind auch zu zweit«, sagte Lena.
»Nein, sind wir nicht.« Erst jetzt fiel ihr auf, dass Nora zum ersten Mal, seit sie sie kannte, nicht wie ein bunter Papagei gekleidet war. Sie trug schwarze Jeans, einen schwarzen Rollkragenpullover und eine ebenfalls schwarze Lederjacke, dazu gleichfarbige Stiefel und Handschuhe. Es sah nicht nur wie ein Kampfanzug aus, begriff Lena, es war einer.
»Nimm’s mir nicht übel, Kleines, aber gegen einen Kerl wie Anton oder gar Stepan hast du keine Chance.«
»Du glaubst, er ist selbst hier?«
»Nein, ich hoffe es«, antwortete Nora.
»Wieso?«
»Weil es andernfalls hieße, dass es noch mehr von denen gibt.« Nora deutete mit dem Kopf auf den leblosen Körper von Lenas Mutter. »Ich wäre nicht erstaunt, wenn dieser Irre sich inzwischen eine ganze Armee aufgebaut hat! Verdammt, ich habe Louise gewarnt, diesem Kerl zu trauen, aber sie hört ja nicht auf mich. Vielleicht wird sie ja schlau, wenn wir ihr hiervon erzählen.« Sie seufzte tief, drehte sich um und fügte leise hinzu: »Falls wir es überleben.«
»Was machst du überhaupt hier?«, fragte Lena.
Nora streckte behutsam den Kopf aus der Tür und lauschte
einen Moment mit angehaltenem Atem, bevor sie antwortete. »Meinen Job, Dummchen. Ich passe auf deinen hübschen Hintern auf. Zum zweiten Mal, übrigens.«
»Ich meine, wie du hierher kommst.«
»Louise hat mich gebeten, auf dich aufzupassen.« Nora klang jetzt ein bisschen unwillig. »Wie sich zeigt, nicht ganz zu Unrecht. Was bist du eigentlich? Weltrekordhalterin in der Disziplin ›Wie bringe ich mich in möglichst große Schwierigkeiten‹?«
Bevor Lena eine weitere Frage stellen konnte, machte Nora eine hastige Geste, still zu sein, und huschte dann widersinnigerweise alles andere als lautlos durch die Tür. Lena horchte und konnte weder genau sagen, was sie da hörte, noch aus welcher Richtung es kam. Es klang jedenfalls nicht gut.
Leise folgte sie Nora, die sich überraschenderweise nicht zur Wohnungstür gewandt hatte, sondern wieder ins Wohnzimmer gehuscht war. Sie hatte sich am offenen Fenster so weit nach vorn gebeugt, als hätte sie allen Ernstes vor, an der senkrechten Wand sieben Stockwerke nach unten zu klettern. Dann richtete sie sich aber wieder auf, maß Lena mit einem nachdenklichen Blick und hob bedauernd die Schultern.
»Was?«, fragte Lena.
»Nichts«, antwortete Nora. »Wir hätten es dir eher zeigen sollen. Aber mit diesem Mist hier konnte ja auch keiner rechnen.«
»Mir was zeigen?«
Nora antwortete nicht, sondern gestikulierte ihr nur wieder, leiser zu sein. Lena musste an das unsichtbare böse Etwas denken, das über ihr an der Wand gehockt hatte, und ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken.
»Auf dem Parkplatz«, sagte sie. »Das warst du.«
»Ich passe auf dich auf.« Nora wollte sich an ihr vorbeidrängen, aber Lena hielt sie fest.
»Tom«, sagte sie. »Was hast du mit ihm vor?«
»Dein kleiner Polizistenfreund? Nichts.« Nora hob die Schultern, weil ihr offenbar klar wurde, dass sie Lena nichts vormachen konnte. »He, ich mag ihn nicht, klar?«
»Du bist eifersüchtig auf ihn.«
»Ja«, gestand Nora unumwunden. »Und? Keine Angst, ich werde deinem kleinen Schnuckelchen kein Haar krümmen. Ich kann warten.«
»Worauf?«
»Bis du das Interesse an ihm verlierst. Oder er zu alt wird.« Nora riss sich los. »Und jetzt schlage ich vor, dass wir diese kleine Diskussion auf später verschieben, einverstanden?«
Sie verdrehte demonstrativ die Augen und wollte losstürmen, blieb dann aber abrupt wieder stehen.
»Was ist los?«, fragte Lena alarmiert.
Nora deutete in die Diele hinaus. »Das Geld. Hast du es genommen?«
Lenas Blick folgte ihrer Geste. Der Umschlag, den sie auf die Kommode gelegt hatte, war verschwunden. »Nein.«
»Ich auch nicht«, sagte Nora.
»Jemand war hier?«, fragte Lena zweifelnd. Aber das hätte sie doch gehört!
Nora deutete
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