Wir sind die Nacht
nur ein Achselzucken an, lauschte mit schräg gehaltenem Kopf und halb geschlossenen Augen und ging dann weiter. Lena beschlich ein sonderbares Gefühl der Endgültigkeit, als sie ihr aus der Wohnung folgte. Die Trauer, die sie beim Anblick ihrer toten Mutter vermisst hatte, überkam sie nun mit doppelter Macht, als sie begriff, dass sie nie wieder hierher zurückkommen würde. Es war nicht nur eine Wohnung, aus der sie heraustrat, sondern ihr gesamtes bisheriges Leben.
Sie verscheuchte die unangenehmen Gedanken, so gut sie konnte, und beeilte sich, zu Nora aufzuschließen, die auf dem Treppenabsatz aber schon wieder stehen geblieben war.
Bei Lenas Ankunft war der Treppenabsatz noch unversehrt gewesen. Jetzt war ein Teil der Wandverkleidung abgerissen, so dass Mehmets Piratenversteck dahinter zum Vorschein gekommen war, und sein Besitzer lag mit verrenkten Gliedmaßen, aufgerissenen Augen und zerfetzter Kehle auf den Stufen daneben.
Lena erinnerte sich nicht, wie sie zu ihm hinuntergekommen war. Sie kniete neben ihm, lud sich seinen leblosen Körper auf Schoß und Arme und versuchte mit verzweifelter Kraft, nicht zu schreien. Tränen füllten ihre Augen, ohne dass es ihnen gelang, sie zu verlassen, und plötzlich war der Schmerz da, ein grausames Reißen und Wühlen, das aus den tiefsten Tiefen ihrer Seele emporstieg und unendliche Pein und rasender Zorn zugleich war. Sie schrie, schüttelte den leblosen Körper mit verzweifelter Kraft und schlug abwechselnd mit der Faust auf seine schmale Brust ein und fuhr ihm mit der Hand durchs Gesicht, schüttelte ihn und schrie immer wieder seinen Namen, als könnte das irgendwie das Leben in seinen Körper zurückzwingen, das ihm auf so grausame Weise gestohlen worden war.
Er war noch warm. Sein Herz hatte wohl erst vor Kurzem zu schlagen aufgehört, und vielleicht konnte sie ja dasselbe tun wie Louise gestern. Sie hatte doch bewiesen, dass sie nicht nur Leben nehmen, sondern auch geben konnte. Verzweifelt presste Lena den Mund auf Mehmets Lippen, flößte ihm ihre Atemluft in die Lunge und konzentrierte sich mit jeder Faser ihres Seins darauf, ihm etwas von ihrer Lebenskraft zu geben.
»Lena.« Eine Hand legte sich auf ihre Schulter, und Nora sagte noch einmal: »Lena. Es hat keinen Sinn. Er ist tot.«
»Aber er hat niemandem etwas getan!«, schluchzte Lena. »Er … er hat mit nichts von alledem etwas zu tun! Er … er war doch noch ein Kind!«
»Ich weiß«, sagte Nora mitfühlend. »Aber das ändert nichts. Niemand kann ihn wieder lebendig machen. Auch du nicht. Komm.«
Sie versuchte sie in die Höhe zu ziehen, aber Lena schüttelte ihre Hand ab und presste den toten Jungen nur noch fester an sich.
»Ich verstehe dich, Lena«, sagte Nora sanft. »Wir schnappen uns die Kerle, die das getan haben, das verspreche ich dir, aber jetzt müssen wir von hier verschwinden. Wir müssen Louise warnen. Oder willst du, dass sie Charlotte und sie auch noch umbringen?«
Lena konnte nicht sagen, welches dieser Argumente den Schleier aus Schmerz und dumpfer Wut durchbrach, aber schließlich ließ sie Mehmets leblosen Körper wieder auf den Boden sinken, schloss mit einer zärtlichen Bewegung seine Augen und stand auf. Hinter ihr wurde eine Tür aufgerissen, und ein gellender Schrei erklang.
»Mist!« Nora packte sie am Arm und zerrte sie hinter sich her. Die Frauenstimme hinter ihr wurde immer lauter und hysterischer - wahrscheinlich war es Mehmets Mutter, dachte Lena entsetzt, die durch ihre Schreie aus dem Schlaf gerissen worden war und sie mit ihrem toten Sohn auf den Armen gesehen hatte.
Sie jagten in die nächste Etage hinunter und dann noch eine weiter. Mehr Türen wurden aufgerissen, und aufgeregte Stimmen begannen durcheinanderzurufen, und als sie das nächste Stockwerk erreichten, war einer der Bewohner so mutig, ihnen den Weg zu versperren. Nora stieß ihn mit solcher Wucht zurück, dass er mitsamt der zersplitternden Tür in seiner Wohnung verschwand. Sie rasten die Treppe ins dritte Geschoss hinunter.
Erst in diesem Moment hörte Lena die Schritte von zwei Personen unter sich. Schnelle, sehr schwere Schritte. Und sie roch die Angst. Der Geruch war ebenso unverkennbar wie der von Blut und fast genauso verlockend, nur düsterer, unreiner.
Sie beschleunigte ganz ohne ihr Zutun. Schneller, als es einem
normalen Menschen möglich gewesen wäre, fegte sie die Stufen hinab, fast ohne sie zu berühren, und Nora folgte ihr wie ein Schatten. Lena konnte fühlen, wie der
Weitere Kostenlose Bücher