Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
Vom Netzwerk:
Jagdinstinkt ihrer Schwester erwachte, und auch die Gier in ihr selbst wurde größer.
    Aber noch unendlich viel größer war ihr Zorn. Dort unten waren die Mörder ihrer Mutter - die Mörder Mehmets! -, und sie würde sie nicht so einfach entkommen lassen!
    Als die beiden Flüchtenden das Erdgeschoss erreichten und sich dem Ausgang näherten, schwang sich Lena kurzerhand über das Geländer und sprang die nächsten anderthalb Etagen in die Tiefe. Nora folgte ihr auf dieselbe Art. Erstaunlicherweise kam sie trotzdem vor Lena auf, als wäre es ihr irgendwie möglich, schneller zu springen, und anders als Lena stürzte sie auch nicht beim Aufschlag, sondern setzte ihren Lauf fort, als wäre nichts geschehen. Sie holte die beiden Männer noch vor der Tür ein und schleuderte sie mit einer einzigen zornigen Bewegung zurück. Einer von ihnen prallte mit solcher Wucht gegen die Wand, dass sein Hinterkopf eine blutige Spur auf dem abblätternden Putz hinterließ, der andere stürzte mit einem abgehackten Schrei rücklings auf die Treppe.
    Lena rappelte sich auf, war mit einem Sprung bei ihm und erkannte ihn wieder. Es war einer der Burschen, die sie gestern bei Stepan im Parkhaus gesehen hatte, ein schwarzhaariger, brutaler Kerl, einen halben Meter größer als sie und mindestens doppelt so schwer. Dennoch bereitete es ihr keine Mühe, ihn hochzureißen und gegen dieselbe Wand zu schmettern, an der schon sein Kumpan zusammengebrochen war.
    Der Kerl knickte zwar in den Knien ein, fing sich aber sofort wieder und griff unter seine Jacke, um einen verchromten Trommelrevolver zu ziehen.
    Kaum hatte er die Waffe auf sie gerichtet, riss sie sie ihm aus den Fingern und boxte ihm mit der anderen Hand so fest in den Leib, dass er mit einem erstickten Keuchen vor ihr zusammensackte.
In seinen Augen stand nichts als nackte Panik geschrieben, aber sie sah nur seine pochende Halsschlagader und spürte das pulsierende Leben darin. Das Blut, das sie haben wollte. Das sie brauchte .
    Neben ihr erscholl ein reißender Laut. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie sich Nora über den anderen Russen beugte, ließ sich davon aber nicht ablenken. Wieder spürte sie die Gier, die wie mit Raubtierkrallen in ihren Eingeweiden wühlte. Sie war hungrig. So unvorstellbar hungrig .
    Der Russe begann sich schwächlich zu wehren. Lena schlug seine Hände zur Seite, warf ihn mit einem Ruck auf den Rücken und rammte ihm das Knie in den Bauch. Er schnappte japsend nach Luft, und Lena zwang seinen Kopf zur Seite, beugte sich über ihn und riss den Mund auf, um ihm die Zähne in den Hals zu schlagen und sein Blut zu trinken …
    Sie konnte es nicht. Der Hunger und die Schmerzen waren so unerträglich geworden, dass sie davon überzeugt war, sterben zu müssen, wenn sie diese entsetzliche Gier nicht befriedigte, sein Blut nicht trank. Sie musste es tun! Jetzt!
    Aber sie konnte es einfach nicht.
    Sekundenlang blieb sie einfach so über ihn gebeugt hocken, am ganzen Leib zitternd und wimmernd vor Qual, dann kippte sie zur Seite und krümmte sich schluchzend auf dem Boden.
    »Verdammt, schnapp dir den Kerl!«, fauchte Nora. »Du brauchst ihn!«
    Lena krümmte sich nur noch weiter. Noras Worte stachelten die Gier in ihren Eingeweiden zu noch größerer Agonie an, aber sie konnte es einfach nicht!
    »Ach, verflucht!« Noras Gesicht tauchte in den durcheinanderwirbelnden roten und schwarzen Schlieren über ihr auf. Sie sah sehr wütend aus. Ihre Lippen und ihr Kinn waren blutverschmiert. »Jetzt schnapp dir den Kerl endlich! Willst du draufgehen?«

    Lena krümmte sich noch weiter, musste gegen einen plötzlichen, aber ungemein heftigen Schub von Übelkeit ankämpfen. Nora beugte sich über den Russen. Mit einem einzigen Hieb ihrer Fingernägel, die plötzlich so lang und scharf wie Raubvogelklauen waren, zerfetzte sie ihm die Kehle und sah mitleidlos zu, wie er die Hände gegen den Hals schlug und gurgelnd am eigenen Blut erstickte. Erst dann wandte sie sich wieder zu Lena um und zerrte sie brutal in die Höhe.
    »Wenn ich dich nicht so verdammt gern hätte, dann würde ich dich jetzt einfach hier liegen lassen und aus sicherer Entfernung zusehen, wie du das hier deinem kleinen Polizistenfreund erklärst!«, fauchte sie. »Gib mir die Wagenschlüssel! Ich nehme doch an, du hast nichts dagegen, wenn ich fahre?«
    Lena grub mit zitternden Fingern den Schlüssel mit dem auffälligen gelb-schwarzen Anhänger aus der Tasche. Nora riss ihn ihr aus der Hand, drehte sie herum

Weitere Kostenlose Bücher