Wir sind die Nacht
Russisch.
Der Lichtstrahl zitterte, ließ ihr Gesicht für einen Moment los und schwenkte dann mit einem Ruck zurück. Nur eine Sekunde später erscholl ein sonderbar dumpfer Knall, vermutlich das Geräusch eines Schalldämpfers. Außerdem musste es sich um eine ziemlich großkalibrige Waffe handeln, dachte Lena benommen. Auf Charlottes Brust erschien zwar nur ein kaum
münzgroßer Fleck, aber zwischen ihren Schulterblättern stob ein regelrechter Geysir aus Blut und zerrissenem Fleisch hervor. Sie wankte.
»Das war jetzt ein ganz dummer Fehler«, sagte Nora.
»Ruhig!«, fauchte Louise. »Irgendwas stimmt hier nicht.«
Spätestens nachdem sie drei weitere Schüsse auf Charlotte abgegeben hatten, waren die Russen wohl zu dem gleichen Schluss gekommen. Sie hörten auf zu feuern, und der gelbe Lichtkreis, der ihr Gesicht festhielt, zitterte stärker.
»Ich kenne mich in diesen diplomatischen Feinheiten nicht aus«, sagte Charlotte und ging die letzte Stufe zum VIP-Bereich hinauf, »aber das deute ich jetzt einfach mal als Nein.«
Es fiel kein weiterer Schuss mehr, aber zu dem ersten Lichtstrahl gesellte sich nun ein zweiter, der ebenso zitternd über den gefliesten Boden huschte und sich ihr näherte. Er war dünner als der erste, konzentrierter, und hatte einen ganz leichten Stich ins Bläuliche, und irgendetwas daran … alarmierte Lena, ohne dass sie sagen konnte, was.
»Charlotte!«, schrie Louise. »Pass auf!«
Charlotte blieb stehen. Der Lichtstrahl strich an ihren Beinen hinauf und glitt über ihren Leib und ihre Brust, und da, wo er ihre unverhüllte Haut berührte, ging sie in Flammen auf, als wäre ein Schweißbrenner über ihr Fleisch gestrichen. Charlotte kreischte auf, verstummte aber wieder, als der Lichtstrahl diagonal über ihr Gesicht strich und es in eine zischende Feuerwolke verwandelte.
Louise fluchte, fuhr herum und versetzte Lena einen Stoß, der sie zu Boden stolpern ließ, und ein weiterer geisterhaft blauer Lichtstrahl tastete genau dort entlang, wo sie sich gerade noch befunden hatte.
Ein weiterer tödlicher Lichtstrahl züngelte nach Louise, verfehlte sie und schwenkte blitzschnell zu Nora herum. Er streifte sie nur, aber schon die flüchtige Berührung reichte, eine Spur
aus zischenden weißen Flammen über ihre Waden zu jagen und sie mit einem spitzen Schrei zusammenbrechen zu lassen.
»Versteck dich!«, befahl Louise, während sie aufsprang und sich zugleich in einen Schemen mit faserig verlaufenden Konturen verwandelte, der sich hundertmal schneller als ein Schatten bewegte. Auch Nora sprang wieder hoch, obwohl ihre Hosenbeine noch glühten. Sie schlug die Funken mit der bloßen Hand aus und war dann mit einem einzigen Satz bei Charlotte auf dem Rand des Beckens. Lena begriff erst jetzt, dass Charlotte sich immer noch brennend am Boden wälzte. Der Lichtstrahl hielt sie erbarmungslos fest, sengte das Fleisch von ihrem Schädelknochen und ließ ihr Blut in einer zischenden rosafarbenen Wolke verdampfen, und genau in diesem Moment näherte sich ihr ein zweites Oval aus tödlichem Licht.
Einen Sekundenbruchteil bevor es sie erreichte, griff Nora in den sengenden blauen Strahl hinein und zerrte sie weg. Ihre Hand fing sofort Feuer. Lena konnte sehen, wie ihr Fleisch verdampfte und der weiße Knochen darunter zum Vorschein kam, nur um sich sofort schwarz zu färben und zu Asche zu zerfallen. Milliarden winziger gelber Funken stoben auf und strebten der Decke entgegen. Nora kreischte wie in nie gekannter Qual, zerrte Charlotte aber trotzdem über den Beckenrand. Immer noch lichterloh brennend, stürzte Charlotte auf den Boden des ehemaligen Schwimmbeckens. Nora wich dem zweiten Todesstrahl mit einem ansatzlosen Salto rückwärts aus, mit dem sie zugleich zu Charlotte hinuntersprang, um sich über sie zu werfen und die Flammen zu ersticken. Eine Hand krallte sich in Lenas Schulter und riss sie so grob zurück, dass es wehtat.
»Versteck dich!«, zischte Louise ihr ins Ohr. »Verkriech dich irgendwo, und halt den Kopf unten, klar? Ich finde dich schon, wenn alles vorbei ist!«
Sie verschwand sofort wieder, und auf der anderen Seite des Schwimmbeckens erscholl erneut dieses sonderbar weiche Plopp.
Auf den schallgedämpften Schuss folgten weitere. Die Russen schossen anscheinend ungezielt in der Gegend herum. Funken sprühten, wo die Geschosse auf hundert Jahre alte Fliesen prallten und sie zertrümmerten, und für einen Moment war das zur Tanzfläche umfunktionierte Schwimmbecken
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