Wir sind die Nacht
eine unsichtbare Schlinge lautlos um ihn zusammengezogen hatte. Sie hätte ihn wenigstens warnen können, hatte aber nichts unternommen, und damit war es genau wie bei ihrer Mutter und Mehmet: Ebenso gut hätte sie ihn eigenhändig umbringen können.
Jemand rief ihren Namen, aber die Stimme vermochte den Schleier aus dumpfem Schmerz und Verzweiflung nicht zu durchdringen, der sich zwischen sie und die Welt gesenkt hatte. Er war tot, und er wäre es nicht, wenn sie nicht hier wäre, so einfach war das und so grausam.
Wieder rief jemand ihren Namen und ergriff ihre Schulter. Lena schüttelte die Hand ab, und nur einen Augenblick später traf sie ein Schlag ins Gesicht. Bunte Sterne explodierten vor ihren Augen, und eine Woge rasender Wut stieg in ihr empor und erlosch, von einem anderen, stärkeren Willen als ihrem eigenen besiegt. Derselbe Wille erstickte auch den Kummer um Tom und zwang sie, die Tränen wegzublinzeln und in Louises Gesicht hinaufzusehen.
»Alles wieder in Ordnung?«, fragte Louise.
»Tom«, murmelte Lena. »Er ist … tot.«
»Ist er nicht, Kleines«, sagte Nora hinter ihr. Sie stand am Pult des DJs und blickte konzentriert auf das halbe Dutzend Bildschirme, dessen blaues Flackerlicht ihr Gesicht in einen unheimlichen Schein tauchte. »Aber wir sind es bald, wenn wir noch lange hier herumstehen und den Seelendoktor spielen.« Die letzten Worte galten vermutlich Louise, und als sie von den Monitoren zurücktrat, wandte sie sich auch direkt an sie. »Ein halbes Dutzend. Wahrscheinlich mehr.«
»Ist Anton bei ihnen?«, fragte Louise.
»Auf dem Bildschirm ist er jedenfalls nicht zu sehen.«
»Anton?«, murmelte Lena verwirrt. »Du meinst, das sind … die Russen?«
»Toms Freunde scheinen es nicht zu sein«, erwiderte Nora. »Es sei denn, es gehört zu einer neuen Taktik der Polizei, zuerst einmal den eigenen Leuten in den Kopf zu schießen.«
»Aber warum sollten sie das tun?«, sagte Lena.
»Ich werde Stepan fragen«, antwortete Louise an Noras Stelle. »Kurz bevor ich ihm den Kopf abreiße.«
Charlotte gesellte sich zu ihnen, mit zwei bunten Kühlboxen beladen und dazu zwei Umhängetaschen, die aussahen, als wären sie mit Ziegelsteinen ausgestopft. Louise nahm ihr die Taschen ab, während Nora sich die zweite Kühlbox schnappte. Lena hätte erwartet, ebenfalls ihren Teil des Gepäcks zu bekommen, aber Louise bedeutete ihr nur, zwischen Charlotte und sie zu treten, und dann setzten sie sich in Bewegung; nicht zum Vordereingang hin, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Lena dachte an Tom, der jetzt dort draußen lag und vielleicht verblutete, und der Gedanke tat weh, aber auf eine seltsam distanzierte Art; fast als dächte sie über Figuren aus einem Roman oder einem Film nach, die ihr zwar ans Herz gewachsen waren, aber eben doch keine richtigen Menschen waren. Hatte Louise ihr das angetan?, dachte sie zornig. Hatte sie ihr nach allem nun auch noch ihren Schmerz geraubt?
Charlotte eilte die schmale Treppe zum VIP-Bereich hinauf und blieb auf der vorletzten Stufe plötzlich stehen. Da waren Geräusche; das Klappen einer Tür, vielleicht Schritte, und die absichtlich flach gehaltenen Atemzüge von zwei Männern, wenn nicht drei.
»Wenn sie nicht solche Idioten wären, dann könnten sie einem schon fast leidtun«, flüsterte Nora hinter ihr. »Schenkst du mir einen, Louise? Oder zwei?«
Louise machte eine unwillige Geste, still zu sein, und setzte die beiden Taschen ab. Irgendetwas schien sie zu stören.
Auch Charlotte setzte ihre Last ab und sah mit einem Mal angespannt aus. Ein kleines Stück vor ihr erschien ein flackerndes Oval auf dem gefliesten Boden, der Strahl einer Taschenlampe. Lena war verwundert. Sie hätte die Reaktion dieser Gangster verstanden, wären es eben nicht mehr als ganz normale Zuhälter und Schläger gewiesen. Aber Anton war einer von ihnen, und sein Vater auch, und beide wussten doch genau, wie wenig ihre Männer hier ausrichten konnten. Wieso schickten sie ihre Leute in den sicheren Tod? Der Lichtschein wanderte weiter, verfehlte Charlotte erst um eine Handbreit und kehrte dann zitternd zurück, um an ihren Beinen und ihrem Körper emporzuwandern und dann auf ihrem Gesicht hängen zu bleiben. Sie blinzelte nicht einmal, obwohl das grelle Licht ihr direkt in die Augen stach.
»Ihr habt eine Minute, um von hier zu verschwinden, Freunde«, sagte sie. »Wer dann noch hier ist, ist tot.« Ohne innezuhalten, wiederholte sie die Worte noch einmal auf
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