Wir sind die Nacht
nach seinem Blut ist? Einen Tag? Zwei?«
»Niemals!«, sagte Lena empört.
»Du weißt nicht, was Hunger ist«, antwortete Louise. »Du denkst, du wüsstest es, aber glaub mir, du hast keine Ahnung.«
»Dann wird es vielleicht Zeit, dass ich es herausfinde.«
Louise machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten, sondern maß sie mit einem Blick, in dem nur noch wenig Zuneigung lag, ehe sie sich umdrehte und zur Tür ging.
»Warum fängst du nicht gleich damit an?«, sagte sie noch. »Niemand zwingt dich, etwas davon zu trinken.«
Sie schloss die Tür hinter sich, und Lena starrte ihr hilflos nach. Louise hatte mit jedem verdammten Wort recht, dachte sie frustriert, und das war das Allerschlimmste. Zornig begann sie im Zimmer auf und ab zu gehen, starrte den Plastikbeutel mit der Blutkonserve an und fragte sich, warum sie ihn nicht einfach aus dem Fenster warf oder auf dem Boden zertrat.
Stattdessen wandte sie sich mit einem Ruck ab, als könnte sie der Verlockung dieses verdammten Dings entkommen, indem sie es nicht mehr ansah, und hätte dann beinahe gelacht, als ihr klar wurde, warum Louise den Plastikbeutel liegen lassen hatte. Gab es denn einen subtileren Weg, ihr zu zeigen, was sie war? Louise hatte sie zu genau dem gemacht, was sie am allermeisten verachtet hatte: einem Junkie. Sie hing an der Nadel, so einfach war das. Dieser Gedanke machte sie noch zorniger. Sie hatte Angst vor dem Entzug - schlimmer noch: Schon die Angst vor der Angst war mehr, als sie ertrug. Vielleicht half ja eine Zigarette.
Sie wusste sehr genau, dass das nicht helfen würde, ging aber trotzdem zum Tisch und klappte den Deckel des silbernen Etuis auf, aus dem sich Charlotte manchmal bediente. Es war leer. Aus purer Gewohnheit griff sie in die Jackentaschen, erinnerte
sich daran, dass die Jacke im Wasser gelegen hatte und gar nichts darin sein konnte, und zog die Hand wieder zurück. Dann stand sie einfach nur da und starrte die zerknitterte Visitenkarte an, die sie zwischen Daumen und Mittelfinger hielt. Manchmal beschritt das Unterbewusstsein schon sonderbare Wege. Sie drehte die Karte hin und her und wollte sie schon wieder einstecken, ging stattdessen aber zum Telefon.
Auf der Karte standen gleich mehrere Nummern; zuallererst sein Büroanschluss, darunter eine Handynummer und auf der Rückseite (handschriftlich) seine Privatnummer. Lena zögerte kurz, dann wählte sie Toms offiziellen Anschluss bei der Polizei, hielt den Apparat ans Ohr und schwor sich aufzulegen, wenn Tom nach dem fünften Klingeln nicht dranging.
Das Freizeichen erklang zum vierten Mal, und gerade als sie den Daumen hob, um die Verbindung zu unterbrechen, wurde abgenommen, und eine raue Männerstimme meldete sich: »Lummer, LKA.«
Lenas Daumen berührte die Taste, ohne sie zu drücken. Sie sollte es tun. Sie erinnerte sich an das fröhlich aussehende Dickerchen mit der Halbglatze, und sie hatte keine Angst vor dem, was er sie vielleicht fragte, aber sehr wohl vor dem, was sie vielleicht erfahren würde. Wieso war er an den Apparat gegangen, wo sie doch Toms Durchwahl gewählt hatte?
»Lummer, LKA«, wiederholte der Beamte ungeduldig. »Wer ist da?«
Was, wenn er ihr genau das sagte, wovor sie die allergrößte Angst hatte? Was, wenn Louise gelogen hatte und Tom nicht an sein Telefon gegangen war, weil er es nicht mehr konnte, weil er nämlich tot war?
Lenas Hand zitterte plötzlich so heftig, dass sie Mühe hatte, den Hörer zu halten.
»Wenn Sie mir nicht sagen, wer Sie sind oder was Sie wollen, dann hänge ich jetzt ein«, sagte Lummer.
»Ich … entschuldigen Sie«, sagte Lena hastig. »Ich war nur so überrascht, das ist alles. Kann ich Tom sprechen?«
»Wer ist denn da?«, fragte Lummer. Er klang jetzt eindeutig mehr als nur ein bisschen misstrauisch.
»Ich bin eine Freundin von Tom«, antwortete sie stockend. »Kann ich ihn sprechen, oder ist er nicht da? Ich kann später noch einmal anrufen.«
Sie konnte regelrecht hören, wie es hinter seiner Stirn zu arbeiten begann. »Fräulein Bach?«, sagte er schließlich. »Lena? Sind Sie das?«
»Tom«, sagte sie. »Was ist mit Tom? Geht es ihm gut?«
»Lena, Gott sei Dank, dass Sie anrufen. Wir müssen dringend mit Ihnen sprechen! Wo sind Sie?«
»Tom«, beharrte sie. »Sagen Sie mir, was mit ihm ist, oder ich hänge auf der Stelle ein.«
»Nein, tun Sie das nicht. Tom geht es gut. Aber er macht sich große Sorgen um Sie. Wo sind Sie?«
»Er wurde angeschossen«, sagte Lena. Das war dumm,
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