Wir sind die Nacht
um ihr Leben kämpfen müssen … Aber Louise und die beiden anderen hatten weit mehr getan, als sich zu verteidigen. Sie sah plötzlich wieder das grauenerregende Bild vor sich, wie Nora und Charlotte sich küssten, die Gesichter noch mit dem Blut ihres letzten Opfers besudelt. Sie hatten das Töten genossen.
»Das sind wir nicht, Lena«, sagte Louise, als sie sah, dass sie keine Antwort bekommen würde. »Glaub mir, ich hatte mir geschworen, dir solche Szenen zu ersparen, und ich hätte alles getan, damit es nicht so weit kommt. Aber ich habe diesen Krieg nicht angefangen, und ich wollte ihn auch nicht. Was hätten wir denn tun sollen? Uns abschlachten lassen?«
Vielleicht hätte es ja schon gereicht, wenn sie nicht so grausam gewesen wären, dachte Lena. Es war nicht der Umstand,
dass sie getötet hatten. Jedes Tier wehrte sich, wenn es um sein Leben kämpfen musste, und warum sollte ihnen nicht dasselbe Recht zustehen? Es war die Art, wie sie getötet hatten. Sie hatte Louises wahre Gestalt in den Schatten gesehen, ein … Ding, das nur existierte, um zu zerstören.
War es das, wozu sie nach einem Jahrhundert an Louises Seite werden würde?
»Was bist du?«, fragte sie.
Louise sah ihr fest in die Augen. »Kein Mensch«, antwortete sie ruhig. »Aber vielleicht auch nicht das, wofür du mich hältst.«
»Das ist keine Antwort auf meine Frage.«
»Es ist trotzdem die einzige, die ich dir geben kann«, sagte Louise ernst. »Ich weiß, dass du mich für ein Ungeheuer hältst, aber das bin ich nicht, und du musst es auch nicht werden, wenn es das ist, was dir Angst macht. Wir sind zwar Raubtiere, aber wir müssen nicht töten, um zu überleben. Früher war das vielleicht einmal so, aber das ist lange her.«
Aber sie wollten es, und das war ungleich schlimmer. Louise sagte nicht die Wahrheit. Sie war gar kein Raubtier, denn Raubtiere hatten keine andere Wahl.
»Ich … brauche noch Zeit«, sagte sie stockend.
»Das ist so ungefähr das Einzige, was ich dir nicht geben kann, Liebes«, antwortete Louise sanft. »Wenn die Sonne untergeht, müssen wir hier weg sein.«
»Frag mich dann noch einmal«, sagte Lena grob.
»Und dann?«, wollte Louise wissen. »Was willst du tun, wenn du nicht mit uns kommst? In die nächste Apotheke gehen und nach einer Blutkonserve fragen? Oder deinen kleinen Polizistenfreund um Hilfe bitten?« Lena spürte, wie der Zorn mit der unaufhaltsamen Gewalt eines brodelnden Vulkans unter Louises trügerisch sanften Zügen wieder erwachte.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie.
»Drei Tage«, fuhr Louise verächtlich fort. »Ich gebe dir drei
Tage, und du schleichst nachts durch die Straßen und suchst nach Beute. Du wirst genau zu dem, wovor du dich so fürchtest. Willst du das?«
»Ich habe dich nicht darum gebeten, mir das anzutun.«
»Aber es ist nun einmal passiert, ob es dir gefällt oder nicht«, antwortete Louise kalt. »Du hast Angst, so zu werden wie Nora oder ich? Das wirst du, wenn du allein bleibst. Ich kann dir zeigen, wie du es vermeidest. Kann dein kleiner Polizistenfreund das auch?«
Als Lena etwas darauf erwidern wollte, schnitt sie ihr mit einer Handbewegung das Wort ab, ging schnell zum Kühlschrank und kam mit einem rot gefüllten Plastikbeutel zurück, den sie so wuchtig vor ihr auf den Tisch knallte, dass er beinahe aufgeplatzt wäre. »Kann er dir das hier geben?«
Lena schwieg. Ihr Herz schlug immer schneller, und nicht zum ersten Mal spürte sie, wie da etwas in ihr erwachen wollte, eine schwarze Wut, die ihr zuflüsterte, ihre Krallen in Louises Fleisch und ihre Zähne in deren Hals zu schlagen.
»Ich kann es«, fuhr Louise fort. »So oft und so viel du willst, und keine Angst, ohne dass du dir deine hübschen Fingerchen schmutzig machen musst. Kann dein kleiner Blondschopf das auch?«
»Was hast du gegen Tom?« Es gelang Lena, die Wut niederzukämpfen, aber sie bildete sich nicht ein, dass Louise es nicht merkte. Deren Augen blickten so mühelos bis auf den Grund ihrer Seele, als wäre sie aus Glas.
»Gegen Tom?« Louise lachte. »Nichts. Im Gegenteil, Kleines. Er ist nett. Ich mag ihn … Warum sonst hätte ich ihn wohl am Leben gelassen? Und warum sonst, glaubst du wohl, will ich nicht, dass du bei ihm bleibst?«
»Was soll das heißen?«
Louise deutete auf die Blutkonserve. »Wie lange hältst du es ohne das da aus? Was glaubst du, wie lange es dauert, bis du
morgens neben ihm wach wirst und feststellst, dass der süße Geschmack auf deiner Zunge der
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