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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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denn wenn Tom seinem Kollegen bisher noch nicht verraten hatte, dass sie vor dem Club gewesen war, als die vermeintliche Schießerei ausbrach, dann wusste er es spätestens jetzt.
    Er klang allerdings nicht sonderlich überrascht, als er antwortete. »Er hat großes Glück gehabt. Es war nur ein Streifschuss. Ein paar Tage Kopfschmerzen sind alles, was er zurückbehalten wird. Aber er ist halb verrückt vor Sorge um Sie! Sagen Sie mir, wo Sie sind, und ich lasse Sie abholen!«
    Lena tat das, was sie gleich hätte tun sollen, und hängte ein. Mit zitternden Fingern drehte sie die Karte um, zögerte noch einmal und wählte dann die mit krakeliger Handschrift notierte Nummer. Diesmal ertönte das Freizeichen acht- oder neunmal, bevor sie ein leises, elektronisches Knacken hörte. »Hi«, meldete sich jemand.
    »Tom, ich bin’s, Lena. Bitte …«

    »Ich bin im Moment nicht da«, fuhr die aufgekratzt klingende Stimme fort. »Aber ihr wisst ja, wie das funktioniert. Sprecht einfach nach dem Pfeifton.«
    Lena ließ das Telefon sinken und starrte den Apparat an, als hätte er sie persönlich angegriffen. Tränen ohnmächtiger Wut schossen ihr in die Augen.
    »Aber lasst euch nicht zu viel Zeit, sonst schaltet mein elektronischer Helfer ab, und eure Chance ist futsch«, plapperte Toms aufgezeichnete Stimme fröhlich weiter. Dann erscholl ein dünnes, unangenehm hohes Pfeifen, und Lena nahm das Gerät hastig wieder ans Ohr.
    »Tom, ich bin’s, Lena«, begann sie unsicher. »Ich bin … ich bin ja so froh, dass du noch lebst, und …« Ganz plötzlich wurde ihr klar, dass sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Sie schluckte krampfhaft. »Ich … ich muss mit jemandem reden, aber ich hab sonst niemanden, und du …«
    Ihre Stimme versagte endgültig, und nun liefen ihr die Tränen ungehindert übers Gesicht. Was sollte sie ihm denn sagen? Also, es gibt da eine Kleinigkeit, die du noch nicht weißt. Nichts Besonderes, wirklich nicht. Ich bin ein Vampir, weißt du, und meine Freundinnen auch, aber sonst ist alles in Ordnung. Ja, das wäre eine hervorragende Idee.
    Und ganz plötzlich begriff sie, wie allein sie war.
    Lena ließ das Telefon sinken, drückte die Taste, die die Verbindung unterbrach, und begann danach hemmungslos zu schluchzen. Sie merkte nicht einmal, wie sie mit der Hand das Telefon zerquetschte.

26
    War eine Stunde vergangen, oder waren es fünf gewesen, oder nur zehn Minuten …? Sie konnte es nicht sagen. Welche Bedeutung hatte Zeit noch, wo gerade ihr gesamtes Leben in Stücke brach? Sie trieb durch einen Ozean aus Kummer, der einfach keinen anderen Gedanken zuließ. Nicht einmal die Erkenntnis, dass es Selbstmitleid war, vielleicht die zerstörerischste Art des Kummers, vermochte sie aus diesem Sumpf zu ziehen. Sie wollte leiden, und selbst das bisschen Logik, zu dem sie noch fähig war, spendete ihr keinen Trost, denn es sagte ihr nur, dass Louise mit jedem Wort recht hatte. Ihr Leben, wie sie es bisher gekannt hatte, war vorbei. Sie konnte mit Louise gehen und alles darauf setzten, dass sie die Wahrheit sagte und sie nicht zum Ungeheuer wurde, oder sie konnte hierbleiben und sterben. Falls Louise oder Nora sie nicht vorher umbrachten. Niemand würde ihr helfen können, auch Tom nicht.
    Und da war der Blutbeutel auf dem Tisch.
    Lena spürte die Verlockung, die von ihm ausging, ein lautloses Wispern am Grunde ihrer Seele, so dünn, dass sie es weder greifen noch bekämpfen konnte, aber auch quälend, wie ein Widerhaken, der sich tiefer und tiefer in ihr Fleisch grub, ganz egal, was sie auch tat. Sie war hungrig, so unvorstellbar hungrig . Und es war ein Hunger, von dem sie wusste, dass er nie wieder aufhören würde. Sie war in der Hölle, und es gab keinen Weg, der wieder hinausführte.

    Ohne sich daran zu erinnern, wie sie dorthin gekommen war, saß sie in dem bequemen Sessel am Kamin, in dem Charlotte normalerweise ihre Bücher las. Es war sehr still und die Sonne war ein sichtbares Stück weitergewandert. Louise hatte die Vorhänge nicht ganz geschlossen, und ein haardünner Faden aus gelbem Licht fiel vor Lena auf den Teppich, sprang im rechten Winkel nach oben und zog eine leuchtende Linie über den Plastikbeutel und von dort aus wieder auf den teuren Teppichboden hinab; wie ein gut abgerichteter Bluthund, der Witterung aufgenommen hatte. Vielleicht noch eine halbe Stunde, und er hatte sie erreicht. Vielleicht sollte sie einfach hier sitzen bleiben und abwarten, ob das Schicksal beschloss, sie zu

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