Wir sind die Nacht
glaube, so ist es besser.«
Nervös grub er einen Schlüssel aus der Tasche seiner albernen Pagenuniform, schob ihn in das Schlüsselloch unter der Zifferntafel und drückte dann hintereinander auf drei Tasten. Der Aufzug setzte sich summend in Bewegung.
»Jetzt fahren wir ohne Halt bis zum Penthouse durch«, sagte er.
Charlotte wirkte ehrlich beeindruckt. Der lodernde Tod in Louises Augen zog sich etwas zurück - und Nora tat etwas ganz und gar Unerwartetes: Sie klimperte überrascht mit den Augenwimpern, stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.
»Vielen Dank«, sagte sie.
Nein, jetzt war sein Kopf nicht mehr nur rot. Lena war sich sicher, dass er in der nächsten Sekunde explodieren würde.
Weder das noch irgendetwas anderes Dramatisches geschah, bis der Fahrstuhl sein Ziel erreichte. Der Page konnte seinen Blick nun gar nicht mehr von Nora wenden. Als die Kabine anhielt, huschte er als Erster hinaus und bedeutete ihnen mit einer Geste zurückzubleiben, bis er sich davon überzeugt hatte, dass der kurze Weg zu ihrer Suite frei war. Erst dann wedelte er aufgeregt mit der Hand und eilte im Laufschritt voraus, um die Zimmertür zu öffnen.
»Niedlich, dein kleiner Sir Lancelot«, flüsterte Charlotte. Nora reagierte nicht darauf, aber Louise sah sie kurz ärgerlich an.
Der Page machte sich auch sofort daran, in jedem einzelnen Zimmer der Suite die Vorhänge zu schließen. Jetzt wirkte Louise ein bisschen alarmiert.
»Du wirst ihn in Ruhe lassen«, zischte Nora leise, als sie sah, auf welch sonderbare Weise Louise den jungen Burschen betrachtete. »Rühr ihn nicht an!«
»Es gibt nichts Gefährlicheres als verliebte Jungs«, erwiderte Louise in nachdenklichem Ton. »Sie schnüffeln überall herum und finden manchmal mehr raus, als gut für sie ist.«
»Du rührst ihn nicht an«, sagte Nora diesmal drohend.
Die Rückkehr des Pagen beendete das Gespräch, bevor es endgültig zu einem Streit ausarten konnte. Äußerlich hatte der junge Mann sich nun fast perfekt unter Kontrolle, ganz wie er es für seinen Job gelernt hatte, aber nicht nur Lena spürte, dass er unter dieser Maske vor Aufregung fast starb.
»Brauchen Sie sonst noch etwas?«, sprudelte er los. »Vielleicht einen Arzt oder …?«
»Es ist alles in Ordnung«, fiel ihm Louise ins Wort. Sie lächelte sogar, aber ihre Stimme war wie Eis. »Wir brauchen nur ein bisschen Ruhe.«
»Ich verstehe«, antwortete er verlegen. »Bitte entschuldigen Sie. Ich wollte nur …«
»Es ist wirklich nicht so schlimm, wie es aussieht.« Diesmal war es Nora, die ihn unterbrach. »Eigentlich ist die Geschichte sogar ganz lustig. Ich erzähle sie dir vielleicht später. Aber jetzt brauchen wir erst einmal eine kleine Verschnaufpause.«
»Natürlich«, antwortete er hastig.
Nora schob ihn mit sanfter Gewalt aus dem Zimmer, drückte die Tür ins Schloss und drehte sich langsam zu Louise um. Deren Lächeln erlosch wie abgeschaltet.
»Du rührst ihn nicht an!«, sagte Nora noch einmal.
Louise sagte vorsichtshalber gar nichts, sondern sah ihr nur mit einem Ausdruck leiser Überraschung nach, wie sie im Nebenzimmer verschwand.
»Tja, wo die Liebe hinfällt«, sagte Charlotte.
»Es gibt Länder, da wird man für so etwas verhaftet«, knurrte Louise. »Der Kerl ist doch noch ein Baby!«
»Ist das nicht jeder, gegen dich?«, sagte Charlotte spöttisch. Sie schlenderte zum Bücherregal, wo ihre Fingerspitzen der Bewegung folgten, mit der ihr Blick über die goldgeprägten Buchrücken tastete. Hatte sie etwa vor, sich in aller Seelenruhe an den Kamin zu setzen und ein Buch zu lesen? Jetzt?
Stattdessen schüttelte sie nur den Kopf und seufzte tief. »Sie werden mir fehlen.«
»Ich kaufe dir neue«, sagte Louise unwillig.
Charlotte bedachte sie mit einem traurigen Blick, nahm ein eher unauffälliges Bändchen vom Regal und presste es mit beiden Händen an die Brust, als wäre es der wertvollste Schatz der Welt. Einen kurzen Moment stand sie mit geschlossenen Augen reglos so da, dann fuhr sie auf dem Absatz herum und floh aus dem Zimmer.
»Was hat sie damit gemeint, sie werden mir fehlen?«, fragte Lena.
»Wir können sie nicht alle mitnehmen«, antwortete Louise. »Wir pflegen nämlich mit kleinem Gepäck zu reisen.«
»Das heißt, wir verschwinden tatsächlich von hier?«
»Sobald es dunkel ist«, sagte Louise. »Zuerst einmal aus der Stadt und dann vielleicht auch aus dem Land, wenigstens für eine Weile. Das vorhin war ein
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