Wir sind die Nacht
verschonen, oder die Sonne sie in Stücke schnitt.
Eine knappe halbe Stunde später tastete das Skalpell aus Licht nach ihrem linken Bein. Sie wartete, bis der Lichtstrahl nur dicht bei ihrem Fuß war, dann stand sie urplötzlich auf und legte rasch einen respektvollen Abstand zwischen sich und den vermeintlich harmlosen Streifen Helligkeit.
»Ich bin froh, dass du es nicht getan hast.« Lena fuhr erschrocken herum, starrte Charlotte an und fragte sich, ob sie wohl schon lange dastand und sie beobachtete. Charlotte fuhr mit einem unmöglich einzuschätzenden Lächeln fort: »Obwohl ich mir beinahe sicher war, du würdest es tun.«
»Was?«, sagte Lena, um Zeit zu gewinnen.
Charlotte deutete mit dem Kopf auf den zitternden Faden aus Licht. »Glaubst du wirklich, du wärst die Erste, die mit diesem Gedanken spielt?«
»Welchem Gedanken?«, fragte Lena. »Tut mir leid, ich weiß nicht, was du meinst.«
Charlotte ließ sich vor dem Lichtstrahl in die Hocke sinken und hielt die Hand hinein. Es zischte. Der goldfarbene Sonnenstrahl schnitt wie ein Skalpell in ihr Fleisch, verbrannte es und fraß sich fast bis auf den Knochen durch, bevor Charlotte
endlich aufstand, den Arm zurückzog und die Hand zur Faust ballte. Ihr Handrücken brodelte, und ein Schauer winziger goldfarbener Funken löste sich von ihrem verkohlten Fleisch und strebte dem schmalen Spalt in den Gardinen zu. Die meisten erloschen auf halbem Weg, aber einigen wenigen gelang es, ins Freie zu gelangen, und Lena sah, wie sie plötzlich zehnfach heller aufleuchteten und nach oben stiegen.
»Wenn Louise recht hat und wir wirklich Kinder der Sonne sind, dann ist ein Teil von mir jetzt heimgekehrt«, sagte Charlotte. »Eigentlich ein schöner Gedanke, findest du nicht?« Sie hob den Arm. Ihre Hand war vollkommen unversehrt.
»Beeindruckend«, sagte Lena. »Mit der Nummer könntest du reich werden, weißt du das?«
»Vielleicht«, antwortete Charlotte, »aber ganz bestimmt nicht sterben. Nicht alles, was Louise dir erzählt hat, ist gelogen. Damit würdest du dir nur wehtun. Um uns zu töten, braucht es schon ein stärkeres Kaliber.«
»So wie gestern Morgen auf dem Balkon?«, sagte Lena böse.
Die Worte taten ihr schon leid, bevor sie sie ganz ausgesprochen hatte, aber Charlotte fuhr ungerührt fort: »Jede von uns hat schon einmal daran gedacht. Nora. Ich. Wahrscheinlich sogar Louise. Vielleicht ist das normal. Man hat Angst vor dem, was kommt, weil man nicht weiß, was es ist. Menschen haben Angst vor dem Unbekannten, das ist ganz normal. Und sie haben Angst, das zu verlieren, was sie kennen … selbst wenn es gar nicht so wertvoll zu sein scheint.«
»Hat Louise dich geschickt, um mit mir zu reden?«
»Sie hat mich geschickt, aber nicht deshalb«, sagte Charlotte. »Du solltest nichts Übereiltes tun, Lena. Ich weiß, dass du Angst hast, aber glaub mir, das ist nicht nötig. Du wirst Wunder erleben, die du dir jetzt noch nicht vorstellen kannst.«
»Ja, das hat Louise mir auch gesagt«, antwortete Lena scharf. »Aber ich habe sie gesehen. Und Nora und dich auch.«
Charlotte legte fragend den Kopf auf die Seite.
»Ich weiß, was ihr wirklich seid!«
»Du hast etwas gesehen«, sagte Charlotte sanft. »Etwas, was dir große Angst gemacht hat. Aber die Dinge sind nicht immer so, wie sie zu sein scheinen.«
»Ach ja?« Lena versuchte möglichst herablassend zu klingen. »Aus welcher Folge von Akte X stammt diese Weisheit?«
»Lass dir ein wenig Zeit«, sagte Charlotte ungerührt. »Niemand kann dich dazu zwingen, etwas gegen deinen Willen zu tun oder zu etwas zu werden, was du nicht werden willst.«
Lena maß Charlotte mit einem nachdenklichen Blick. »Wenn du mir damit irgendetwas Bestimmtes sagen willst, dann verstehe ich es nicht.«
»Sehr viel gibt es da auch nicht zu verstehen. Denk einfach nur an das, was ich dir gesagt habe.« Charlotte deutete auf den Plastikbeutel. »Und dass das da nichts als Nahrung ist.«
»Wie meinst du das?«, fragte Lena verwirrt. Nichts als Nahrung? Was denn sonst?
»Ganz genau so, wie ich es sage«, antwortete Charlotte geheimnisvoll. Sie begann im Zimmer auf und ab zu gehen und schien etwas Bestimmtes zu suchen, hob dann aber nur seufzend die Schultern und trat an ihr geliebtes Bücherregal. Zärtlich strich sie mit den Fingerspitzen über die ordentlich aufgereihten Buchrücken, als nähme sie Abschied.
»Warum nimmst du sie nicht einfach mit?«, fragte Lena. »So viele sind es doch nicht.«
Charlotte
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